Versicherungsbote: Sie haben an der TU Wien – gemeinsam mit einem Forschungsteam des Institute for Financial and Actuarial Mathematics an der Universität Liverpool – das Modell einer „parametrischen Versicherung“ für Epidemien entwickelt. Auffallend ist hieran zunächst: Bei hohen Deckungsrisiken greifen immer mehr Produkte, die für Parameter leisten. In den letzten Jahren sind zum Beispiel parametrische Wetterversicherungen neu auf dem Markt erschienen. Nun also Ihr Vorschlag einer parametrischen Pandemie-Versicherung. Wie funktioniert eine solche Versicherung? Und welchen Vorteil hat das Versichern der Parameter gegenüber einem „klassischen“ Versicherungsprodukt, das einen entstandenen Schaden nachträglich abgeltet?

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Julia Eisenberg: Das Modell einer parametrischen Versicherung ist durch eine gemeinsame Arbeit mit Carmen Boado-Penas, Corina Constantinescu und Şule Şahin entstanden, die alle an der University of Liverpool forschen. Auszahlungen bei parametrischen Versicherungen hängen, wie der Name schon sagt, von einem Parameter ab. Betrachtet man Katastrophenereignisse wie zum Beispiel die Hurricanes, so könnte die Windstärke ein solcher Parameter sein. Übersteigt die Windstärke einen bestimmten vertraglich festgelegten Wert, so wird eine vertraglich festgelegte Auszahlung fällig. Dadurch, dass man den tatsächlichen Schaden nicht feststellen muss, kann die Auszahlung – und das heißt: die nötige Hilfe – sofort geleistet werden.

Von grundlegender Bedeutung ist hier, dass der Auslöser (Trigger) weder vom Versicherten noch von der Versicherungsgesellschaft beeinflussbar ist. Die Windgeschwindigkeit ist in unserem Beispiel objektiv messbar, eventuell bei mehreren Stationen. Dadurch wird das Problem von Moral Hazard vermieden. Man hat also keine Möglichkeit, die Versicherung zu manipulieren.

Die Finanzmathematikerin Dr. Julia Eisenberg forscht an der Technischen Universität Wien.@Julia Eisenberg

…und wie lässt sich dieses Beispiel auf die parametrische Epidemie-Versicherung übertragen?

Bei einer Epidemie hat man zunächst keine fertigen Parameter, die Moral Hazard ausschließen würden. Deshalb schlagen wir das folgende Schema vor: Man stellt zunächst fest, welches Land in der Vergangenheit erfolgreich gegen eine Epidemie „gekämpft“ hat. Die Infektionsraten (Anzahl der Neuinfizierten relativ zu der Anzahl der Nichtinfizierten des Vortages) dieses Landes, aufgeteilt auf die Städte-Beobachtungen, liefern den Vergleichsdatensatz. Über den gesamten Epidemie-Verlauf findet man mithilfe der statistischen Methoden Tag für Tag die beste Verteilung, die die Infektionsdaten des Vergleichslandes beschreibt. Aus dieser Verteilung kann man nun zum Beispiel die Entwicklung der Erwartungswerte über die Zeit berechnen. Die gewonnene Kurve gibt gewissermaßen Auskunft, wie sich die Lage entwickelt.

Damit man zufällige Ausbrüche und Manipulationen vermeiden kann, wird die Erwartungswert-Kurve mit der Methode des gleitenden Durchschnitts (zum Beispiel über sieben Tage) geglättet. Diese Funktion dient als Soll-Kurve oder Parameter-Kurve bei der vorgeschlagenen Parameterversicherung. Mithilfe der gewonnenen Verteilung berechnet man in der beschriebenen Weise die neue Kurve im Falle einer Epidemie aus den neuen Daten. Die Versicherungsauszahlungen sind in mehrere Tranchen aufgeteilt. Die Zeitpunkte der Auszahlungen sind fest definiert. Dabei beobachtet man den Verlauf der neuen Erwartungswert-Kurve und vergleicht diese mit der Soll-Kurve. Sollte die neue Kurve die Soll-Kurve schneiden, werden keine weiteren Zahlungen geleistet.

Natürlich braucht man auch einen oder mehrere Trigger. Als ersten Trigger kann man zum Beispiel den Zeitpunkt wählen, wenn das versicherte Land den Notstand ausruft. Weitere Trigger können einfach nur feste Zeitpunkte sein – wobei anhand der Soll-Kurve geprüft wird, wie die Infektionsraten sich entwickeln.

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Gleichzeitig kann man eine bestimmte Anzahl an Tests verlangen. Diese sollen nicht unbedingt individuell sein. Man kann auch kostensparend Gruppentests anwenden. Die Anwendung der Tests muss überwacht werden. Besonders in diesem Punkt ist die Manipulationsgefahr sehr groß. 


Post-Desaster-Spenden könnten zu spät kommen

Wie können Staaten von dem Produkt profitieren?

Wie bereits erwähnt, sind die Staaten zunächst die Versicherten. Die Nutznießer sind die Bürger. Diese (Rück)-Versicherung ist eher für die armen Länder gedacht – solche Länder sind oft nicht in der Lage, einen ausreichenden sozialen Schutz in Zeiten einer Epidemie zu bieten. Die Gesundheitssysteme in solchen Ländern sind für gewöhnlich sehr schwach. Also wären die Maßnahmen wie zum Beispiel ein Lockdown lebensnotwendig. Doch auf der anderen Seite würden Leute dabei verhungern. Schon jetzt warnt Oxfam (Internationale Nothilfe- und Entwicklungsorganisation), dass bis zum Ende des Jahres 2020 mehr Menschen an Hunger in Folge von COVID-19 sterben könnten als an dem Virus selbst.

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Die Epidemie-Versicherung würde die soziale Versicherung eines Staates unterstützen. Durch sofortige Auszahlungen könnte man zum Beispiel Lebensmittel verteilen. Durch mehrere aufgeteilte Zahlungen würden die Regierungen der betroffenen Länder animiert, schneller härtere Maßnahmen zu ergreifen. In Italien zum Beispiel hat man am 31. Januar 2020 den Notstand ausgerufen – was aber nicht verhindern konnte, dass sich die Sterblichkeit im März enorm erhöht hat. Die Maßnahmen der Regierung waren nicht ganz wie erhofft.

Und welchen Gewinn hätte im Gegenzug die Versicherungswirtschaft bei Übernahme bestimmter Risiken einer Volkswirtschaft? Aus welchem Grund wäre eine solche Versicherung auch für die Rückversicherer ein „gutes Geschäft“?

Für die (Rück)-Versicherer wären es ganz normale Verträge, wo die Prämien „nach allen Regeln der Kunst“ berechnet werden. Man könnte sich Modifikationen dieser Versicherung vorstellen wie etwa: Beim Kauf jeder Versicherung (KfZ etc.) zahlt der Verbraucher einen sehr kleinen Prozentsatz in die Katastrophenkasse des Landes. Für dieses Geld wird dann eine soziale Rückversicherung abgeschlossen. Es entsteht eine neue Branche für die Rückversicherer.

Bei Ihrem Modell einer Epidemie-Versicherung versichern Rückversicherer Staaten. Wie „rechnet“ sich dies? Sie haben am Beispiel Italiens Ihr Modell durchgerechnet. Wie hoch wären Prämien, die ein Staat wie Italien für die Epidemie-Versicherung zahlen müsste? Und wie hoch wären zu zahlende Summen bei Eintritt der Parameter, die das Risiko realistisch abbilden?

Das Beispiel Italien war ein Toy-Example, also eine stark vereinfachte Rechnung. Die Pandemie ist noch nicht zu Ende. Aber wir konnten relativ leicht auf italienische Daten zugreifen: deshalb haben wir Italien gewählt. Wir haben zwei Tranchen vorgeschlagen, wobei die erste Zahlung an alle Haushalte ging (auch an wohlhabende Haushalte wie Berlusconi, was natürlich nicht viel Sinn macht). Die zweite Zahlung ging aber nur an Haushalte mit Einkommen kleiner als eine bestimmte Grenze.

Hier müssen einige Wahrscheinlichkeiten berechnet werden, die das Pricing so schwer machen. Zum einen braucht man die Wahrscheinlichkeit für eine Epidemie in dem zu versichernden Land. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erwartungswert-Kurve dieses Landes die Soll-Kurve schneidet, unumgänglich. Wenn ein derartiger Vertrag abgeschlossen wird, müssen natürlich Immunologen, Virologen etc. als Experten mitwirken. Da das Beispiel nur die technischen Details demonstriert und nicht auf die Frage antwortet, wie genau die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten auszurechnen sind, möchte ich mit konkreten Zahlen keine Verwirrung stiften.


Für die armen Länder werden aber Kosten für einen Lebensmittelkorb oder den Minimallohn wesentlich geringer sein, wodurch sich die Prämie verringert. Trotzdem wäre eine solche Prämie sehr hoch. Deshalb könnte sie von Spenden unter Miteinbeziehung von World Bank, Vereinigten Nationen etc. bezahlt werden. Prävention rettet in diesem Fall buchstäblich Leben. Post-Desaster-Spenden könnten zu spät kommen.

Ziel ist, die gefährdeten Bevölkerungsschichten zu schützen

Sie empfehlen, die Versicherungssumme in verschiedenen Tranchen auszuzahlen. So soll ein Teil des Geldes sofort fließen. Ein weiterer Teil aber ist an die Erfüllung bestimmter Bedingungen geknüpft – der versicherte Staat soll beweisen, nötige Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung einzuhalten. Welchen Hintergrund haben diese Empfehlungen?

Wie ich oben bereits beschrieben habe, muss man kontrollieren, dass die versicherten Staaten die Versicherung nicht manipulieren. In etwa so: Der Lockdown wird so lange wie möglich nicht erklärt, um die wirtschaftlichen Schäden zu minimieren – Geld aus der Versicherung kommt netterweise dazu. Die Bevölkerung bleibt dabei aber auf der Strecke.

Gibt es Erfahrungen aus der Praxis, wie Rechtssicherheit für Rückversicherer gewährleistet werden kann gegenüber Staaten als „Kunden“? Und welche Möglichkeiten haben die Staaten, bei unklarer Rechtslage ihre Interessen einzufordern (zum Beispiel bei verweigerter Leistung)?

Wir haben das Design nicht genau von der rechtlichen Seite studiert. Die verwendeten Methoden sollen alle vertraglich fixiert werden. Die Kontrolle über Tests könnte zum Beispiel seitens der Vereinigten Nationen erfolgen. Bei Nichteinhalten der Bedingungen gibt es auch kein Geld. Für die Versicherer ist es „business as usual“ und keine „Wohltätigkeit“. Das ist einer der Vorteile, da die Staaten ganz klar mit Unternehmen und nicht mit Wohltätigkeitsfonds zu tun haben werden.

Über die Erfahrungen in der Praxis weiß ich leider nichts. Die Hoffnung ist, dass die Praktiker auf die Publikation von unserem Modell reagieren. Eine Diskussion hier ist mehr als erwünscht. 


Wäre demnach aus ihrer Sicht ein Produkt wie die parametrische Epidemie-Versicherung auch für private Endkunden geeignet – als Angebot durch Erstversicherer? Oder ist es nur als Rückversicherungsprodukt für Staaten denkbar?

Man könnte sich natürlich vorstellen, dass auch Privatkunden interessiert wären. Die Versicherung müsste genauso funktionieren wie für die Staaten. Die Epidemie-Stärke könnte in diesem Fall z.B. durch die täglichen Todesraten, durch Ausrufen des Notstandes oder wieder durch Infektionsraten gemessen werden. Bei einer privaten Versicherung wäre aber das Verhalten des Staates nicht von Bedeutung. Die Leute, die sich eine derartige Versicherung leisten können, sind aber nicht die primär betroffenen. Deshalb sprechen wir auch von der sozialen Rückversicherung, um die am meisten gefährdeten Bevölkerungsschichten zu schützen. 


Vielleicht ein Ausblick: Was denken Sie, wie wird die Krise die Versicherungs- und Produktlandschaft verändern? Könnten zum Beispiel neue Kalkulationsmodelle wie das Versichern von Parametern vermehrt die „klassische“ Schadenkalkulation ersetzen?

Die Tendenz geht ein bisschen in diese Richtung. Allerdings kann man sich bei der Berechnung des erwarteten Schadens, welcher als Parameter-Auszahlung vertraglich fixiert wird, stark verrechnen und auf den Kosten sitzen bleiben. Außerdem spielen natürlich auch die Extremschäden eine Rolle. Diese sind extrem selten, doch wenn sie passieren, kann eine Versicherung auch pleite gehen. Denken Sie etwa an den 11. September. Also werden die klassischen Versicherungen nicht verschwinden.

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Die Fragen stellte Sven Wenig

Hinweis: Der Text erschien zuerst im Versicherungsbote Fachmagazin

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