Wenn Angehörige von Unternehmerfamilien entführt werden
Entführungen mit dem Ziel ein Lösegeld zu erpressen, juristisch als erpresserischer Menschenraub bezeichnet, sind laut Kriminalitätsstatistik mit durchschnittlich 50 bis 80 Fällen im Jahr in Deutschland zwar ein seltenes Ereignis. Aber wen es trifft, für den stellt es das Leben auf den Kopf. Es ist eines der grausamsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann.
- Wenn Angehörige von Unternehmerfamilien entführt werden
- Die Rolle der Polizei
- So laufen die Verhandlungen
Marc Brandner und Pascal Michel sind Krisenberater und Mitinhaber von SmartRiskSolutions. Regelmäßig stehen Sie betroffenen Firmen und Familien bei Entführungen und Erpressungen als Berater zur Seite. Ihr Ziel ist es, durch Verhandlungen mit den Tätern die Freilassung der Entführungsopfer zu erreichen.
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Das Interview führte der Journalist Prof. Dr. Patrick Peters durch.
Herr Brandner, Herr Michel, Sie sind ja in einem außergewöhnlichen Bereich tätig. Wie kommt man zu diesem Beruf?
Marc Brandner: Wie die wenigen, die in diesem Segment des Krisenmanagements arbeiten, haben wir einen beruflichen Vorlauf im Staatsdienst. Während Herr Michel viele Jahre bei einer bundesdeutschen Sicherheitsbehörde im weltweiten Einsatz war, ist mein beruflicher Hintergrund ein militärischer, als Offizier im Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundewehr und anschließend als Leiter Sicherheits- und Krisenmanagement für eine EU-Mission in Afghanistan. In dieser Zeit erlebte ich als Sicherheitsverantwortlicher eine große Bandbreite an Vorfällen, darunter auch Entführungen. Anschließend war ich, wie Herr Michel, nach bestandenem Auswahlverfahren und intensivem Training mehrere Jahre exklusiv im internationalen Krisenreaktionsteam eines großen US-amerikanischen Spezialversicherers für Entführungen, Erpressungen und andere Krisenfälle weltweit tätig. Seit 2019 sind wir als SmartRiskSolutions direkt für einen namhaften deutschen Versicherer sowie mehrere andere Versicherer auf diesem Gebiet tätig.
Auch wenn die meisten Entführungen in Ländern wie Mexiko und Nigeria stattfinden, liest man immer wieder von Entführungen in Deutschland und anderen Industrienationen. Was sind denn wesentliche Unterschiede von Entführungen in westlichen Ländern, verglichen mit denen in Krisengebieten?
Pascal Michel: Blickt man auf Statistiken, so stellt man fest, dass die Überlebenschancen bei kriminellen Entführungen in Ländern mit hohen Entführungszahlen deutlich höher sind als bei Entführungen in Industrienationen. Der Anteil der Fälle von Entführungen in Deutschland, die leider tödlich endeten, ist mehr als doppelt so hoch wie in Krisengebieten.
Warum ist dies so?
Pascal Michel: Nehmen wir Deutschland. Kriminelle, die eine Entführung ausführen, begehen in der Regel zum ersten Mal diese Tat und haben diesbezüglich keine Vorerfahrung – sind also keine Profis. Denken Sie an die Entführung des Bankierssohns Jakob von Metzler oder vor einigen Jahren von Anneli-Marie Riße, der Tochter eines lokalen Bauunternehmers, in der Nähe von Meißen. In Ländern wie Nigeria und Mexiko gibt es seit vielen Jahren eine Entführungsindustrie und die Täter sind routiniert. Hinzu kommt, dass sich dort die Polizei nur sehr wenig für Entführungen interessiert und oft korrupt ist. In Industrieländern geht die Polizei mit einem hohen Fahndungsdruck gegen Entführer vor. Dies alleine kann aber den unerfahrenen Täter derart unter Stress setzen, dass er mit der Situation überfordert ist und als Kurzschlussreaktion das Opfer tötet. Diese unerfahrenen Täter haben oft die Tat nicht zu Ende gedacht. Im Fall von Anneli-Marie Riße wollten die Täter zunächst Bargeld, dann sollte es auf ein Konto nach Malaysia überwiesen werden – die Täter hatten aber noch überhaupt kein Konto eingerichtet.
Worin unterscheidet sich der Entführer von einem Erpresser?
Marc Brandner: Der Erpresser braucht weniger kriminelle Energie und Gewaltbereitschaft. Er agiert aus der Distanz. Hingegen muss der Entführer zumindest zum Zeitpunkt des Überfalls bereit sein, Gewalt anzuwenden. Eine Erpressung erfordert weniger Logistik, kann also problemlos von einer Einzelperson begangen werden und hinterlässt meistens auch weniger Spuren. Und natürlich kann der Entführer, weil er das Leben des Opfers in der Hand hat, mehr Druck aufbauen und die emotionale Ausnahmesituation der Familienangehörigen ausnutzen als ein Erpresser.
Welches sind die kritischsten Phasen einer Entführung?
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Pascal Michel: Das sind für Täter und Opfer sicherlich der Überfall. Der Täter steht hier unter hohem Stress, will erfolgreich sein und den Überfall abschließen, bevor die Polizei eintrifft. Er muss über das Opfer sehr schnell die Gewalt erlangen. Wehrt sich das Opfer, kann die Lage eskalieren. Im besten Fall wird das Opfer nur verletzt, dann aber beginnt die Geiselhaft mit einer Verletzung. Kritisch ist für den Täter auch die Lösegeldübergabe. Hier rechnet er mit dem Eingreifen der Polizei und ist verständlicherweise sehr misstrauisch. Nicht selten brechen die Täter daher erst einmal eine Lösegeldübergabe wieder ab. Emotional sehr fordernd ist für die Familienangehörigen die Zeit direkt nach der Lösegeldübergabe. Denn es kann dann sogar mehrere Tage dauern, bis das Opfer freikommt. Die Familie hat gezahlt und muss nun darauf vertrauen, dass die Täter ihr Wort halten. Für das Opfer besteht während der Entführung immer die Sorge, dass der Täter bei der Lösegeldübergabe von der Polizei erschossen wird und niemand ihn dann findet. Auch die Freilassung kann traumatisch für das Entführungsopfer sein. Womöglich fahren die Täter das Opfer an einen Ort, um es freizulassen. Das Opfer weiß aber zu diesem Zeitpunkt nicht, ob die Fahrt dazu dient, ihn an einem anderen Ort zu töten.
Die Rolle der Polizei
Wie kommen Entführungsopfer nach der Freilassung mit dem Geschehenen zurecht?
Marc Brandner: Das ist sehr unterschiedlich. Wir hatten einen Fall, wo ein Unternehmer nach mehreren Monaten freikam und am nächsten Tag war er wieder im Büro. Andere zerbrechen an dem Ereignis. Viel hängt von der persönlichen Resilienz ab, auch davon, wie bedrohlich ein Opfer seine Entführung erlebte und ob die Täter das Opfer misshandelten. Entscheidend ist nach der Freilassung das soziale Umfeld, die familiären Beziehungen und wie intakt diese schon vor der Entführung waren. Es wird aber oft vergessen, dass die Familie genauso traumatisiert sein kann. Das Opfer weiß während der Entführung, was gerade passiert. Die Familie malt sich dies in den schlimmsten Vorstellungen aus.
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Wie sieht Ihre Rolle als Krisenberater während einer Entführung aus?
Pascal Michel: Auf der übergeordneten Ebene besteht unsere Rolle darin, dem Unternehmen und der Familie zu helfen, dass ihr Liebster möglichst schnell und unversehrt, zu einem angemessenen Preis freikommt und Folgebedrohungen vermieden werden. Wir helfen aber auch, die Familie zu stabilisieren. Da wir im Gegensatz zur Familie die emotionale Distanz zum Opfer haben, können wir als neutraler Berater agieren. Dies ist wichtig, denn der Täter versucht ja gerade diese emotionale Bindung auszunutzen und so die Familie unter Druck zu setzen. Dies hilft auch, gegenüber den Betroffenen einen kritischen Blick auf die Aktivitäten anderer Akteure zu werfen. Unsere Aufgabe ist es auch, die Krisenstabsarbeit zu steuern, Handlungsoptionen und Verhandlungsstrategien zu entwickeln, über die dann der Krisenstab oder die Familie entscheidet. Wir begleiten alle Phasen, auch die Krisenkommunikation und die Zeit nach der Freilassung.
Macht dies nicht auch die Polizei?
Marc Brandner: Die Polizei ist ein wichtiger Akteur bei einer Entführung in Industrieländern, dem es auch um den Opferschutz geht, aber auch um die Strafverfolgung. Wir hingegen sind ausschließlich den Interessen der betroffenen Unternehmen und Familien verpflichtet – im Krisenfall rund um die Uhr als Servicedienstleister. Wir unterliegen aber nicht dem Einfluss der lokalen oder überregionalen Politik. Für uns zählt nur: was ist für das Opfer und die Betroffenen gut. Der tragische Fall der Entführung von Maria Bögerl, Ehefrau des Direktors der Sparkasse in Heidenheim, zeigt leider sehr deutlich, dass Behörden nicht immer so agieren, wie es für das Opfer und die Familie das Beste ist. Oft handelt die Polizei sehr professionell, aber leider gibt es auch die Gegenbeispiele.
Pascal Michel: Natürlich mag es für Betroffene erst einmal verlockend sein, den Fall ganz in die Hände der Polizei zu übergeben. Wir raten aber dringend davon ab, der Polizei die Verhandlung und Kommunikation mit den Tätern zu überlassen, auch wenn die Polizei sich bei Telefonaten gegenüber Tätern als jemand anderes ausgibt. Denn damit gibt man als Betroffener die Kontrolle über den Verhandlungsprozess komplett aus der Hand. Wenn dann im Laufe der Entführung die Familie oder die Firma eine andere Vorgehensweise als die Polizei möchte, wird dies nur noch schwer möglich sein. Wir empfehlen immer, zuerst eine Lagebewertung mit dem Krisenberater durchzuführen, bevor die Polizei eingeschaltet wird. Wir sind keine Konkurrenz zur Polizei, sondern eine wichtige Ergänzung für Betroffene und deren „Interessenvertretung“. Ohne Krisenberater haben die Betroffenen niemanden, der beurteilt, ob die von der Polizei gewählte Strategie im Sinne der Familie und zielführend ist. Interessant ist auch, dass die Strategie der Verhandlung mit Entführern nicht von der Polizei entwickelt wurde, sondern von privaten Krisenberatern in den 70er Jahren. Die Polizei übernahm später dieses Konzept.
So laufen die Verhandlungen
Wie verhandelt man erfolgreich mit Entführern
Marc Brandner: Es geht zunächst darum, ein gewisses Vertrauensverhältnis zum Täter aufzubauen und ihm zu zeigen, dass man an einer Lösung interessiert ist, gleichzeitig aber dessen Erwartungshaltung senkt. Lebensbeweisfragen signalisieren dem Täter, dass es in seinem Interesse ist, das Opfer am Leben und bei guter Gesundheit zu belassen. Wichtig ist, nicht aufgrund einer Drohung oder eines Ultimatums sein Angebot an den Entführer zu erhöhen. Betroffene denken, je mehr und schneller ich dem Täter biete, umso eher ist die Entführung beendet. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass die Entführer tatsächlich erst dann das Opfer freilassen, wenn sie glauben, nicht mehr Geld erpressen zu können. Unsere Aufgabe ist es, diesen Eindruck beim Täter zu schaffen. Harte Verhandlungen verkürzen eher eine Entführung als ständiges Nachgeben. Aber wir verstehen, dass dies im Widerspruch zum Bauchgefühl der Familie steht.
Gibt es Parallelen von Verhandlungen mit Entführern zu Businessverhandlungen?
Pascal Michel: Solche Parallelen gibt es definitiv. Denn eine Verhandlung mit Entführern ist eine „Geschäftstransaktion“, auch wenn dies zynisch klingt. Inzwischen schulen wir mit unserer Erfahrung aus Entführungsverhandlungen beispielsweise Einkaufsabteilungen von Konzernen in Europa, den USA und Australien zu Geschäftsverhandlungen und dem Umgang mit Drucksituation und begleiten teilweise deren Verhandlungen. Wir hören immer wieder von Kunden: „Bei Geschäftsverhandlungen fühle ich mich wie eine Geisel des Gegenübers.“
Was hat sich bei Entführungen in Europa, verglichen zu der Hochphase der 70er und 80er Jahre, geändert?
Marc Brandner: In der Hochphase, die bis in die neunziger Jahre ging, richteten sich Entführungen oft gegen Personen, die öffentlich sehr bekannt waren, viele davon gehörten zu den Reichsten im Land. Da diese Personengruppen aber ihre Sicherheitsvorkehrungen massiv erhöhten, wählten die Täter Personen aus, die sich selbst nicht als gefährdet ansahen. Dem Täter genügt häufig jemand, der zeitnah eine Summe von mehreren Hunderttausend oder ein, zwei Millionen Euro Lösegeld auftreiben kann. Dazu bedarf es keiner Milliardärsfamilie – dies zeigen auch die Fälle der letzten Jahre. Durch den Einsatz moderner Technologie kann der Täter natürlich auch leichter seine Spuren verwischen, sofern er die Technik beherrscht. Durch Lösegeldzahlungen mittels Kryptowährung vermeidet der Täter die für ihn gefährliche physische Lösegeldübergabe – auch wenn diese Zahlungsvariante bisher im Gegensatz zu Erpressungen eher noch die Ausnahme ist.
Was können Unternehmerfamilien tun, um das Entführungsrisiko zu senken?
Marc Brandner: Ein erster Schritt ist, kritisch zu analysieren, welchen Verwundbarkeiten man ausgesetzt ist. An welche Informationen gelangen potentielle Täter, die ihnen bei einer Tatplanung helfen. Grundsätzlich bin ich dort am verwundbarsten, wo ein Täter wissen kann, dass ich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein werde. Das sind sicherlich das Wohnhaus, regelmäßige Fahrstrecken, wie der Weg in die Arbeit oder bei Kindern zur Schule und zurück sowie regelmäßige Freizeittermine. Dort wo Verwundbarkeiten bestehen, sollte ich unterschiedliche Maßnahmen zur Absicherung haben.
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Pascal Michel: Welche Maßnahmen man auswählt, hängt nicht nur vom Budget ab, sondern auch welche dieser Maßnahmen für eine Familie akzeptabel ist und zu deren Lebensweise passt. Das können organisatorische, personelle, bauliche und technische Maßnahmen sein. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen ist das sicherheitsgerechte Verhalten der einzelnen Familienmitglieder und von Personen aus dem Umfeld wichtig. Schulungen können dabei helfen.
- Wenn Angehörige von Unternehmerfamilien entführt werden
- Die Rolle der Polizei
- So laufen die Verhandlungen