Ein Streitpunkt zwischen Versicherungsnehmern und Versicherern betrifft zum Beispiel die Frage, ob Listen, wie sie in einigen AVB zur Betriebsschließungsversicherung enthalten sind, abschließenden Charakter haben oder nicht. Denn Versicherer leisten laut vielen AVB, wenn eine zuständige Behörde aufgrund des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) den versicherten Betrieb schließt. Pauschal verweisen fast alle Vertragswerke auf dieses Gesetz – genauer: auf Paragraf 6 und Paragraf 7 des IfSG. In diesen Paragrafen werden die meldepflichtigen Krankheiten aufgezählt.

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Versicherer machen sich überholte Auflistungen zum Argument

Allerdings haben viele Vertragswerke der Versicherer Krankheiten selbst gelistet – und zwar mit dem überholten Stand zurückliegender Jahre (Versicherungsbote berichtete). Versicherer machen sich nun ihre alten Listen zum Argument: Weil das Coronavirus COVID-19 erst im Januar 2020 durch das Bundesgesundheitsministerium als meldepflichtige Krankheit erfasst wurde, fehlt die Krankheit in den meisten Verträgen. Die Versicherer sehen sich sprichwörtlich aus dem Schneider und argumentieren, sie müssten für Betriebsschließungen wegen COVID-19 nicht zahlen.

Was den Vertragswerken der meisten Anbieter aber fehlt: explizite Leistungsausschlüsse für neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten. Und die pauschale Verweisung auf dieses Gesetz gibt den Listen der Versicherer aus Sicht von Seitz keinen ausschließenden, sondern einen beispielhaften Charakter. Zumal laut ständiger Rechtsprechung Versicherungsnehmer nicht damit zu rechnen brauchen, dass in ihrem Versicherungsschutz unerwartete Lücken enthalten sind. Kann von einem Versicherungsnehmer wirklich verlangt werden, Veränderungen im Infektionsschutzgesetz zu verfolgen, um ständig den Versicherungsschutz neu zu verhandeln? Eine seltsame Vorstellung.

Gerichte sind sich uneinig

Ist die Klausel aber aus Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers so zu verstehen, dass auch bei neu aufgenommenen Krankheiten der Versicherer leistet, wären die Versicherer gemäß „objektiver Auslegung“ auch in der Leistungspflicht. Wie aber entscheiden nun in dieser Frage die Gerichte? Sie entscheiden völlig gegensätzlich:

  • Ein Urteil des Landgerichts (LG) Ellwangen vom 17.09.2020 (Az. 3 O 187/20) zum Beispiel nimmt an, die Auflistung stelle eine abschließende Regelung dar – und neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten seien nicht durch den Versicherungsschutz gedeckt.
  • Ein Urteil des Landgerichts München vom 22.10.2020 (Az.: 12 O 5868/20) hingegen urteilt: für einen Versicherungsnehmer, der nicht über Spezialkenntnisse verfügt, seien alle im Infektionsschutzgesetz gelisteten Krankheiten versichert (und nicht nur jene, die der Versicherer in seinem Vertragswerk aufgelistet hat).

Vernachlässigen die Gerichte ihre Beweispflicht?

Nun gesteht Seitz zwar zu, dass verschiedene Auffassungen „das tägliche Brot der Juristen, also auch der Gerichte“ seien. Nur: Der wichtigste Schritt der Beweisaufnahme wurde aus der Sicht von Seitz nicht getan. Denn die Versicherungsnehmer – zum Beispiel Gastronomen – wurden nicht gefragt, wie sie die beanstandete Klausel verstehen. Die vom BGH geforderte Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers kommt in der Urteilsfindung nur als Unterstellung vor.

Wenn nun aber schon die Experten derart konträr über die Auslegung einer Liste urteilen, ist zu erwarten: Die Befragung der Versicherungsnehmer würde die Intransparenz der beanstandeten Abschnitte umso deutlicher herausstellen – und damit zeigen, dass die zugrundeliegenden Klauseln rechtlich unwirksam sind. Weil aber die Intransparenz der Vertragswerke nicht durch Befragung der Versicherungsnehmer ermittelt wird, verhindern Gerichte aus Sicht des Rechtswissenschaftlers, „dass rechtlich unwirksame Klauseln in solchen Allgemeinen Versicherungsbedingungen für unwirksam erklärt werden“. Dies führt laut Seitz „zu einer gestörten Vertragsgerechtigkeit, zu einem Ergebnis, welches der Gesetzgeber durch Schaffung der Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen in §§ 305 ff. BGB verhindern wollte“. Für den Rechtswissenschaftler ist daher die derzeitige Praxis der Rechtsprechung im Versicherungsrecht „problematisch“ und müsse „breit diskutiert werden“.

Versicherer hätten neue Klauseln explizit ausschließen können

Und dabei wäre es für Versicherer leicht gewesen, Eindeutigkeit herzustellen: Sie hätten einfach neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten explizit und eindeutig über eine Klausel ausschließen können. Schon in seiner ersten Kritik an der Leistungsweigerung der Versicherer hat Seitz auf dieses Problem hingewiesen. Dann wäre auch eindeutig gewesen, dass neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten nicht versichert wären. Und Versicherungsnehmer hätten sich überlegen können, ob sie ein solches lückenhaftes Produkt tatsächlich abschließen wollen oder nicht.

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