„Der Bundesgesundheitsminister ist ein Meister im Geldausgeben“
Die Coronakrise belastet die gesetzlichen Krankenversicherer – ebenso wie Gesetzreformen, die notwendig scheinen, aber viel Geld kosten. Das merken auch die Beitragszahler, die sich mit steigenden Zusatzbeiträgen konfrontiert sehen. Über die aktuelle Situation der Krankenkassen sprach der Versicherungsbote mit Sigrid König, Vorständin BKK Landesverband Bayern, dem 17 Betriebskrankenkassen mit rund 3,4 Millionen gesetzlich Versicherten angehören.
- „Der Bundesgesundheitsminister ist ein Meister im Geldausgeben“
- "Viele Anreize, Menschen zu reparieren statt vorzubeugen"
Versicherungsbote: Frau König, wie sind die BKK durch das Krisenjahr 2020 gekommen?
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Sigrid König: 2020 war durch die Corona-Pandemie ein sehr herausforderndes Jahr. Neben vielen neuen Leistungsgesetzen, die umgesetzt wurden, war natürlich der Umgang mit den Entscheidungen zu Corona bestimmendes Thema. Insgesamt haben die BKK das Jahr gut gemeistert, weil sie flexibel und krisenerprobt sind sowie über ausreichende Rücklagen verfügten.
Zu Jahresbeginn mussten viele Krankenkassen ihren Zusatzbeitrag deutlich anheben. Experten warnen, das sei erst der Anfang der Teuerungen. Was sind die Gründe hierfür? Mit der Coronakrise lassen sich die Kostensteigerungen nicht allein erklären, oder?
Das ist richtig. Corona ist zwar ein schwerwiegender Ausgabenblock und wird auch prospektiv die Krankenkassen belasten. Aber von den 18,3 Mrd. Euro, die der Gesundheitsfonds 2020 nach Spitzabrechnung voraussichtlich in Summe unterdeckt ist, kann nur ein kleiner Teil davon Corona zugerechnet werden.
Schwerer wiegt die grundsätzliche Ausgabendynamik, die durch gesetzgeberische Maßnahmen angetrieben wird. Der Bundesgesundheitsminister ist ein Meister im Geldausgeben: Die Kostenwirkung der aktuellen Gesetzvorhaben schätzen wir für das Jahr 2021 auf 13 bis 14 Mrd. Euro. Hinzu kommt, dass die GKV seit Jahren Ausgabenlasten trägt, die sozialversicherungsfern sind. Dazu zählen beispielsweise Leistungsausgaben für die ALG II-Empfänger; die Krankenkassen bekommen über die Agentur für Arbeit nicht annähernd einen kostendeckenden Betrag zurück.
Von Krankenkassen-Vorständen kam wiederholt die Kritik, die Kosten der Coronakrise im Gesundheitssystem würden einseitig zulasten der GKV-Beitragszahler finanziert. Teilen Sie diese Kritik? Und können Sie Beispiele hierfür nennen?
Dass auch die gesetzlichen Krankenkassen zur Bewältigung der Corona-Krise ihren Beitrag leisten, ist selbstverständlich. Trotzdem sind pandemische Kosten, die alle Bürger betreffen, wie Tests, Schutzausrüstungen oder der Rettungsschirm für Ärzte aus dem Staatssäckel zu tragen. Dies ist nicht geschehen [Anmerkung: Das Interview fand statt, bevor Jens Spahn im Mai einen höheren Bundeszuschuss für Krankenkassen in Aussicht stellte].
Zudem wurden die Krankenkassen vom Gesetzgeber gezwungen, ihre Rücklagen auf die Grenze des Erträglichen abzuschmelzen, um die Finanzierungslücke der GKV 2021 decken zu können. Zum 1. Januar 2021 mussten die meisten Krankenkassen zudem ihre Zusatzbeiträge anheben; im Schnitt um 0,2 Prozentpunkte. Was mich daran stört ist, dass das alles andere als eine nachhaltige, für den Beitragszahler im Gleichgewicht gehaltene Politik ist. Dringend notwendige Strukturveränderungen fehlen gänzlich.
Daran anknüpfend: Der Verband der privaten Krankenversicherer (PKV-Verband) wehrt sich gegen die Kritik, man würde sich nicht an den Corona-Kosten beteiligen, mit dem Verweis darauf, dass privat Versicherte überproportional Steuern ins Gesundheitssystem einzahlen. Vom jährlichen Bundeszuschuss von zuletzt 17,9 Milliarden Euro haben demnach Privatversicherte gut drei Milliarden in den Gesundheitsfonds des GKV eingezahlt. Wie bewerten Sie dieses Argument?
Das ist ein Trugschluss. Nicht die PKV bringt die Steuern in den Staatshaushalt, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Zudem hängt die PKV-Vollversicherung doch wesentlich an den beihilfeberechtigten Beamten, deren Versicherungskosten größtenteils von der öffentlichen Hand, also den Steuerzahlenden getragen wird. Und drittens handelt es sich bei den Steuerzuschüssen an die GKV ja nicht um Almosen des Staates, sondern um die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen.
Wo sehen Sie aktuell im Gesundheitssystem Sparpotentiale? Müssen gesetzlich Versicherte möglicherweise neue Leistungskürzungen fürchten, damit die Krankenkassen-Beiträge nicht noch mehr steigen?
Das Leistungsangebot der GKV wird von Jahr zu Jahr größer. Aber es werden keine grundsätzlichen Strukturveränderungen angegangen. Ich halte es für essentiell, dass wir endlich auf die Suche nach Ursachen von Krankheit gehen, und die individuelle Lebensgeschichte der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Unser Gesundheitssystem ist getrieben von einer hochtechnisierten Symptombekämpfungsmaschinerie, und Maschinen und OP-Säle wollen ausgelastet sein. Das führt zu einer Vielzahl an unnötigen Untersuchungen, Operationen und sonstigen Eingriffen.
Aktuell gibt es 103 Krankenkassen in Deutschland. Wären Fusionen ein Weg, um eventuell Kosten einzusparen?
Die Kassenlandschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten extrem verändert: In den 70er Jahren gab es in Deutschland noch knapp zweitausend gesetzliche Krankenkassen. Wir haben also schon eine enorme Fusionswelle hinter uns.
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Fusionen sind kein generelles Allheilmittel. Beispielsweise haben wir bei den Betriebskrankenkassen sehr geringe Verwaltungskosten je Versicherten. Entscheidend ist also nicht, wie groß eine Krankenkasse ist, sondern wie innovativ und effizient sie ihre Verwaltung organisiert.
"Viele Anreize, Menschen zu reparieren statt vorzubeugen"
Bei der Zahl der Operationen ist Deutschland Spitze, speziell wenn es um Hüfte, Knie und Gelenke geht - im Vergleich zu den Gesamtausgaben der GKV nimmt hingegen Prävention nur einen kleinen Teil ein. Wäre eine mögliche Option, künftig deutlich mehr in Gesundheits-Prävention zu investieren? Oder sind die vielen Eingriffe ein Tribut, den eine alternde Gesellschaft zahlen muss?
Sigrid König: Unser Gesundheitssystem ist aktuell so gestrickt, dass es viele Anreize für Medizinerinnen und Mediziner setzt, den Menschen zu reparieren statt mehr auf Eigenverantwortung und die Selbstwirksamkeit zu setzen. Eine Operation bringt dem Medizinbetrieb deutlich mehr Geld als ein aufklärendes Gespräch, das zum Beispiel eine Patientin zur Verhaltensänderung einlädt. Hier ist ganz viel an Aufklärung und auch Transparenz notwendig. Viele Betroffene wissen oft gar nicht, dass konservative Behandlungen langfristig wirksamer sein können als der schnelle Griff zum Skalpell.
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Mit der Bundestagswahl könnte – im Falle eines Wahlsieges von rot-rot-grün – auch das Thema Bürgerversicherung wieder auf die Agenda kommen, wonach Privatversicherer nur noch Zusatzversicherungen anbieten dürfen. Würden Sie eine solche begrüßen? Was wären Vor- und Nachteile?
Die PKV hat einen verfassungsrechtlichen Schutz, der so einfach nicht zu kippen ist. Deshalb ist viel interessanter, wie sich Versicherungen halten, wenn die Menschen ein echtes Wahlrecht haben. Da geht der Stadtstaat Hamburg einen neuen Weg und lässt seine Beamten die Art ihrer Krankenversicherung wählen. Wenn es dieses Wahlrecht für alle Beamten gäbe, würde der Wettbewerb zeigen, wie sich die Versicherungssysteme entwickeln. Auch das Wahlrecht für die GKV könnte vergrößert werden.
In diesem Jahr ist Bundestagswahl. Welchen Reformen im Gesundheitssystem müsste die neue Bundesregierung aus Ihrer Sicht zuerst angehen? Wo sehen Sie aktuell Handlungsbedarf?
Sicherlich braucht es eine grundsätzliche Reform des stationären Bereichs. Sektorenübergreifende Lösungen sollten endlich Einzug in die Praxis halten. Ärztliche Gespräche sollten eine andere Kultur und eine andere Bezahlung erhalten. Die Krankenkassen sollten umfassende Beratungsrechte erhalten. Die ganzheitliche Betrachtung der Gesundheit der Menschen sollte angegangen werden. Bei chronischen Krankheiten sollte die Maschinenmedizin um eine stressabbauende psychosoziale Betrachtungsweise ergänzt oder sogar ersetzt werden.
Ein möglicher Reformvorschlag: Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, fordert, dass die gesetzliche Krankenversicherung komplett aus Steuermitteln finanziert wird statt aus Beiträgen. Ohnehin handle es sich bei der Finanzierung um ein Mischsystem, das würde speziell den Faktor Arbeit bei den Lohnnebenkosten entlasten. Ein realistischer Vorschlag?
Dieser Vorschlag müsste erst einmal bis zum Ende durchdacht werden. Das ist er derzeit keineswegs. Die Frage ist beispielsweise, ob aus Staatsfinanzierung dann auch Staatsmedizin wird und ob wir das alles wollen. Entscheidend ist doch, dass wir ein finanziell stabiles System haben. Wir sehen ja aktuell in der Corona-Krise, wie schnell und volatil der Staat agiert, wenn es um die Finanzierung unvorhersehbarer Pandemieleistungen geht.
2020 trat erstmals eine Reform des Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) in Kraft. Dieser Strukturausgleich soll bewirken, dass Kassen mit vielen älteren und kranken Patienten mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhalten, weil sie höhere Gesundheitskosten haben. Immer wieder kam aber Kritik von Betriebs- und Innungskrankenkassen, dieses Instrument hätte den Ortskrankenkassen einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Für Außenstehende ist das Thema mitunter schwer nachzuvollziehen. Können Sie kurz umreißen: Worin bestand diese Wettbewerbsverzerrung? Und hat die Reform für mehr Gerechtigkeit gesorgt?
Kurz gesagt folgen die Geldflüsse aus dem Gesundheitsfonds der dort gemeldeten Morbidität. Deshalb wurden in der Vergangenheit viele fragwürdige Maßnahmen ergriffen, um die gemeldeten Krankheiten in die Höhe zu treiben. Zudem haben wir Kostenunterschiede in der Versorgung. Städtische Gebiete sind durchweg teuer. Damit war es attraktiv, um Versicherte auf dem Land zu werben. Und so gab es noch viele andere Punkte. Wettbewerbsverzerrungen haben wir leider immer noch. Aber die Reform hat einige schwerwiegende Problemstellen beseitigt, die zukünftig wirken sollen.
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Die Fragen stellte Mirko Wenig
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