Rente: Gutachten prognostiziert „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“
In der gesetzlichen Rentenversicherung drohen massive Beitragssteigerungen. Andernfalls müsste der Bund seine Zuschüsse in die Rentenkasse noch mehr erhöhen. Doch das untergräbt die Sozialsysteme, warnt ein Gutachten des Wirtschaftsministeriums. Welche Auswege aus der ‚Renten-Sackgasse‘ noch möglich sind.
„Die rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre haben in eine Sackgasse geführt.“ Mit diesem Satz beginnt eine Meldung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Anlass dafür ist die Vorstellung eines Gutachtens mit dem Titel: „Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“ (PDF).
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Der Weg in die ‚Renten-Sackgasse‘
Die Federführung für das Gutachten oblag dem ‚Munich Center for the Economics of Aging (MEA)‘ des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik. Dessen Direktor, Prof.Dr. Axel Börsch-Supan, war bis 2008 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi. Er kritisierte bereits in der Vergangenheit die aktuelle Rentenpolitik. Besonders die Rentenreform von 2018 mit den Haltelinien von mindestens 48 Prozent für das Rentenniveau und höchstens 20 Prozent für den Beitragssatz würde für die Illusion sorgen, „dass sich höhere Beiträge und ein niedrigeres Rentenniveau dauerhaft vermeiden lassen.“
Das Dilemma der Rentenpolitik beschreiben die Wissenschaftler so: „Wenn der Nachhaltigkeitsfaktor, wie derzeit gesetzlich vorgesehen, ab 2026 wieder greifen würde, gäbe es ein böses Erwachen. Der Beitragssatz würde stark ansteigen und das Sicherungsniveau deutlich fallen“. Will man stattdessen an den Haltelinien festhalten, müssten die Bundeszuschüsse deutlich aufgestockt werden. Doch (noch) höhere Bundesmittel in der Rentenkasse würden zu weniger Investitionen führen. Das „würde die Tragfähigkeit unseres Sozialsystems untergraben“, sagt Prof. Klaus M. Schmidt (LMU München), Vorsitzender des Beirats anlässlich der Vorlage des Gutachtens.
Haltelinien „nicht finanzierbar“
Bereits 2019 flossen knapp 26 Prozent des Bundeshaushalts in die Rentenversicherung. Sollen die Haltelinien Bestand haben, müsste der Bund bis 2040 44 Prozent seines Etats zuschiessen. Bis 2060 sogar über 55 Prozent. „Das würde den Bundeshaushalt sprengen und wäre auch mit massiven Steuererhöhungen nicht finanzierbar“ sagt Schmidt. „Die jüngere Generation muss wissen, mit welcher gesetzlichen Rente sie in Zukunft rechnen kann.“ Da sich die Finanzierungsprobleme schon in wenigen Jahren dramatisch zuspitzen werden, müsse zügig gehandelt werden.
Vor diesem Hintergrund schlägt Börsch-Supan vor, dass der Nachholfaktor wieder eingeführt wird. Der Nachholfaktor bewirkte, dass notwendige, aber unterlassene Rentenkürzungen mit künftigen Rentenerhöhungen verrechnet werden, wenn die Löhne wieder steigen und wurde 2018 ausgesetzt. „Der die Rentengarantie wieder ausgleichende Nachholfaktor muss umgehend wieder eingeführt werden“, so der Ökonom.
Doch allein damit lassen sich die Probleme der Finanzierung noch nicht lösen. Deshalb schlägt der Beirat eine Reformstrategie vor, die sich auf zwei Eckpfeiler stützt:
Zum einen dürfe das Renteneintrittsalter nicht langfristig von der Entwicklung der Lebenserwartung abgekoppelt werden. Stattdessen müssen die zusätzlichen Lebensjahre nach einer klaren Regel zwischen mehr arbeiten und länger Rente beziehen aufgeteilt werden. „Das geschieht am besten durch eine dynamische Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung, sodass das Verhältnis der in Arbeit und in Rente verbrachten Lebenszeit konstant bleibt“, sagt Börsch-Supan. Die Regel soll aber nur greifen, solange die Lebenserwartung steigt. Stagniert sie, greift sie nicht. Nimmt sie ab, könne auch das Renteneintrittsalter sinken.
Dass auch diese Methode Nachteile mit sich bringt, deutet der Beitrat immerhin an, wenn er schreibt: „Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen müssen davon ausgenommen werden.“ Wer hingegen länger arbeiten möchte, als es beispielsweise Tarifbestimmungen zulassen, soll nach Dafürhalten des Beirats von einem Weiterbeschäftigungsrecht Gebrauch machen können, sofern keine betrieblichen Belange dagegensprechen.
Der zweite Eckpfeiler verfolgt die Absicht, die Haltelinie nur auf einen Teil der Rentenleistungen anzuwenden. Das Gutachten des Beirats beschreibt dafür zwei Wege:
- Der erste Weg besteht darin, Bestandsrenten weniger stark zu dynamisieren als Zugangsrenten. Während die Zugangsrenten durch eine Haltelinie von z.B. 48 Prozent gesichert werden, werden anschließend die Bestandsrenten nur noch mit der Kaufkraft dynamisiert. Damit könnte der Beitragssatz dauerhaft unterhalb von 23 Prozent stabilisiert werden, gleichzeitig wäre die Kaufkraft der Rente dauerhaft stabilisiert.
Diese Modell wird beispielsweise in Frankreich und Österreich angewandt. Nachteil: Bei starkem Lohnwachstum erhalten Menschen, die sehr alt werden, im Verhältnis zu den Löhnen nur sehr niedrige Renten. Umgekehrt ist der beitragsentlastende Effekt bei niedrigem Lohnwachstum gering. - Der zweite Weg ist die Abkehr von der strikten „Teilhabeäquivalenz“. Die Rente soll pro Entgeltpunkt mit der Anzahl der Entgeltpunkte abnehmen. Dieses Modell schützt einen Teil der erworbenen Entgeltpunkte mittels einer Haltelinie und bewertet die übrigen Entgeltpunkte nach geltendem Recht. Das, so die Forscher, führe zu einer relativen Aufwertung geringer gegenüber höheren Renten und verringere daher die Gefahr von Altersarmut.
„Beide Wege haben unterschiedliche Verteilungsimplikationen und unterschiedliche Vor- und Nachteile, die sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen“, so Börsch-Supan. Auch eine Kombination beider Modelle sei denkbar. Der Beirat spricht daher keine einseitige Empfehlung aus, drängt aber, diese Diskussion bald zu führen.