5.800 Versicherungsmathematikerinnen und -mathematiker sind in der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) organisiert: Es ist die größte ihrer Art in der Europäischen Union. Für die kommenden zwei Jahre ist seit Ende April Herbert Schneidemann neuer Chef der Zahlenjongleure und -analysten: auch bekannt als Vorstand der Bayerischen. Er beerbt Guido Bader, der dem Vorstand als Past President weiterhin angehören wird.

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In einem Interview mit der DAV-Verbandszeitschrift „Aktuar Aktuell“ äußert sich Schneidemann nun dazu, wo die Aktuare derzeit stehen und welche Aufgaben ihnen künftig zukommen werden: in einer Versicherungsbranche, die sich permanent wandelt und auch mit Krisen konfrontiert sieht. Eine der wichtigsten: der anhaltende Niedrigzins. Corona und die anhaltenden Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) haben den Niedrigzins auf Dauer manifestiert, sagt der promovierte Mathematiker: Das werde „in vielen Bereichen zur tiefgreifenden und vor allem dauerhaften Umwälzung des bisher bekannten Geschäftsmodells führen“.

Mit Vorurteilen gegen kapitalgedeckte Altersvorsorge aufräumen

Trotz Niedrigzins und anhaltender Kritik verteidigt Schneidemann die kapitalgedeckte Altersvorsorge. Man müsse gerade im Niedrigzins mit dem Vorurteil aufräumen, „dass sich Sparen und kapitalgedeckte Altersvorsorge in diesen Kapitalmarktzeiten nicht mehr lohnen“, positioniert sich der Mathematiker. Das Gegenteil sei der Fall: Deutschland altere, der demografische Wandel und die Tiefzinssituation würden von den Menschen verlangen, „mehr zu sparen als je zuvor“.

In diesem Sinn verteidigt der neue DAV-Chef auch die Lebensversicherung. Und hat einen Rat: Sie müsse ihr Alleinstellungsmerkmal in den Mittelpunkt der Kommunikation stellen: „Das ist die verlässliche Absicherung durch lebenslange Rentenzahlungen“. Aktuarinnen und Aktuare hätten hier die Aufgabe, Prozesse durch kreative Produkte zu unterstützen, die an die neuen Gegebenheiten des Marktes angepasst seien. Das bedeute: Investments in chancenreichere Anlagen ermöglichen und weg von niedrig verzinsten Anleihen. „In diesem Changeprozess können die Aktuarinnen und Aktuare mit ihrem Know-how wieder zu Innovationstreibern werden“, sagt Schneidemann.

Mit Blick auf die Bundestagswahl wünsche er sich „endlich eine wahrhaftige Debatte über die Stabilisierung des deutschen Altersvorsorgesystems.“ Diese Diskussion müsse fakten- und nicht ideologiegetrieben sein. Zu diesen „unverrückbaren Fakten“ gehöre auch die Erkenntnis, dass sich die Dreigliedrigkeit des Rentensystems -gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge- bewährt habe, wider aller Kritik.

Welche Herausforderungen die Branche umtreiben, zeigt ein weiterer Artikel in „Aktuar Aktuell“. Wird ab 2022 mit einem Kalkulationszins von 0,25 Prozent gerechnet, ist in der betrieblichen Altersvorsorge die Beitragszusage mit Mindestleistung (BZML) nicht mehr darstellbar, warnen die Aktuare. Ein Vertrag müssten dann mehr als 100 Jahre laufen, um abzüglich der branchenüblichen Kosten den Erhalt der Beiträge gegen Ende der Anwartschaft zu garantieren. Dieser beliebten Art der Vorsorge drohe ohne gesetzliche Reform das Aus, warnt die DAV.

Klimawandel: Modelle noch komplexer

Ein weiteres wichtiges Thema sieht Schneidemann darin, die Versicherer darin zu unterstützen, klimafreundlicher zu werden, Stichwort: Green Deal. Das betrifft nicht nur die Anlage der Kundengelder, wo die Versicherer mit rund 1,7 Billionen Euro Kapitalanlagebestand eine wichtige Größe sind, sondern auch Schadensanalysen und -prognosen.

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“Der Klimawandel wird die aktuariellen Modelle noch komplexer machen. Denn wir müssen noch mehr Zusammenhänge beachten und mehr Daten auswerten. Diese erhöhte Komplexität kann aber dazu führen, dass wir künftig viel genauere Prognosen zu Schadenwahrscheinlichkeiten und -höhen abgeben können“, sagt der Mathematiker. Hier könnten Aktuare eine entscheidende Rolle bei der Schadenprävention spielen und auch die Politik beratend unterstützen: etwa, indem keine Baugenehmigungen mehr für Hochwasser-Regionen erteilt werden.