Deutsche Aktuare: Pflegebürgerversicherung ist keine Lösung
Aus Sicht der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) ist eine Pflegebürgerversicherung keine Lösung, um das deutsche Pflegesystem zukunftsfest zu machen. Denn anders als die privaten Krankenversicherer seien in der sozialen Pflegeversicherung kaum Reserven gebildet worden. Fakt ist aber auch: Die Privatversicherer haben deutlich niedrigere Pflegekosten pro Versichertem.
Die Pflegekosten explodieren seit Jahren: für 2021 erwartet die Soziale Pflegeversicherung, (SPV), 1995 als Teilkasko eingeführt, ein Defizit von 2,5 Milliarden Euro. Tribut an eine alternde Gesellschaft, in der immer mehr Menschen auf Pflege angewiesen sind. Das merken auch die Betroffenen, wenn sie vollstationär untergebracht werden müssen. Der zu zahlende Eigenanteil für Heimbewohner betrug im Bundesschnitt 2.125 Euro pro Monat, so geht es Daten der Ersatzkassen hervor (Juli 2021). Tendenz stark steigend.
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Das hat auch die Debatte über eine Pflegebürgerversicherung neu entfacht. Mit einer solchen Idee gehen unter anderem SPD, Grüne und Linke in den Bundestagswahlkampf. Stand jetzt ist es nicht unwahrscheinlich, dass drei Parteien eine Mehrheit im Bundestag erringen können. Die Idee: alle zahlen in ein einheitliches Pflegesystem ein, auch die privat Pflegeversicherten (PPV). Das soll mehr Einnahmen bringen: und mehr Gutverdiener binden, die sich aktuell noch dem Solidarsystem entziehen können.
Deutsche Aktuare warnen: keine ausreichenden Rücklagen
Aus Sicht der deutschen Aktuare würde eine Pflegebürgerversicherung aber keine Entlastung bringen. „Die Einführung einer Pflegebürgerversicherung ist aus aktuarieller Sicht keine Lösung, um das deutsche Pflegesystem zukunftsfest zu machen, und würde einseitig die Privatversicherten belasten“, sagt Wiltrud Pekarek, Vorstandsmitglied und Vorsitzende des Ausschusses Krankenversicherung der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV). Dabei vertritt Pekarek durchaus auch die Interessen der Privatversicherer. Sie ist Vorstandsmitglied der Alte Leipziger-Hallesche.
Größtes Problem: Anders als die Privatversicherer hätten die gesetzlichen Krankenkassen kaum Rücklagen gebildet, um den demografischen Wandel aufzufangen, kritisiert Pekarek laut Pressetext der DAV. Und dieses Problem könnte sich noch deutlich verschärfen. Denn um das Jahr 2030 herum wird die Generation der Babyboomer in Rente gehen, argumentiert die Vorständin.
„Der Jahrgang 1964 mit 1,4 Millionen Menschen ist heute 57 Jahre alt, hat durchschnittlich ein höheres Einkommen als jüngere Jahrgänge und trägt somit überproportional zur Finanzierung der Sozialsysteme bei. In einem Jahrzehnt geht diese Generation in den Ruhestand und wird nur noch aus den in der Regel geringeren Alterseinkünften in das Umlagesystem einzahlen“, sagt Pekarek. Das umlagefinanzierte System gerate damit unter Druck. Als Beitragszahlende kämen nur etwa halb so viele 20-Jährige nach. Prognoserechnungen zufolge stünden im Jahr 2040 einer Person im Rentenalter etwa zwei Personen im erwerbstätigen Alter gegenüber.
Spätestens 15 Jahre später würde dann ein erheblicher Teil dieser Babyboomer pflegebedürftig. So waren im Jahr 2019 knapp 60 Prozent der ab 85-Jährigen auf Pflege angewiesen.
PPV mit Rücklagen
Die privaten Krankenversicherer stehen vor einem ähnlichen Trend, argumentiert Pekarek weiter. „In den beihilfeberechtigten Tarifen für Beamtinnen und Beamte ist der Anteil der über 65-Jährigen bereits heute höher als in der sozialen Pflegeversicherung. In den Tarifen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird das in eineinhalb Jahrzehnten der Fall sein“, führt die Aktuarin aus. Diesen Trend habe die PPV mit ihrem Kapitaldeckungsverfahren aber von vornherein in die Beiträge einkalkuliert, sodass bis heute etwa 40 Milliarden Euro an Alterungsrückstellungen aufgebaut worden seien - und jedes Jahr kämen weitere drei Milliarden Euro hinzu. „Ganz anders präsentiert sich leider die Situation in der SPV. Hier fließt erst seit 2015 aus deren Einnahmen 0,1 Beitragssatzpunkt in einen Pflegevorsorgefonds, in dem bislang rund acht Milliarden Euro liegen. Jedes Jahr kommen etwa 1,5 Milliarden hinzu“, sagt Pekarek.
Aus ihrer Sicht ist der Vorschlag einer Bürgerversicherung der Versuch, „kalkulatorische Fehler beziehungsweise Versäumnisse in der SPV der Vergangenheit und Gegenwart durch den Griff in die Geldbörsen der PPV-Versicherten zu korrigieren.“ Jene sollen bestraft werden, „die teilweise über Jahrzehnte mit höheren Prämien für ihr Pflegefallrisiko im hohen Alter vorgesorgt haben“, so Pekarek. Die DAV fordert, das umlagefinanzierte soziale Pflegesystem stärker um eine kapitalgedeckte Säule zu erweitern.
Privatversicherer haben im Schnitt deutlich niedrigere Pflegekosten
Beim Blick auf die Zahlen zeigt sich aber auch: tatsächlich haben die Privatversicherer im Schnitt deutlich niedrigere Pflegekosten pro versicherter Person als gesetzliche Versicherer. Das zeigt der „Pflegereport 2019“, den die Sozialwissenschaftler Stefan Greß, Dietmar Haun und Klaus Jacobs vorgelegt haben. Die ausgewerteten Zahlen beziehen sich überwiegend auf die Jahre 2016 und 2017.
Das Ergebnis: Während die Soziale Pflegeversicherung pro Versichertem im Schnitt 492 Euro im Jahr für Pflegeleistungen ausgeben musste, waren es in der privaten Pflegeversicherung lediglich 197 Euro: Beihilfen bereits eingerechnet. Pro Versicherungsnehmer geben die gesetzlichen Pflegekassen folglich satte 250 Prozent mehr aus als die privaten Anbieter (Zahlen für 2017). Die Gründe hierfür sind vielfältig, um nur einige zu nennen:
- Private Krankenversicherer können -mit Ausnahme des Basistarifs- Personen mit Vorerkrankungen ablehnen oder mit deftigen Risikoaufschlägen „bestrafen“. Das wirkt sich speziell in jüngeren und mittleren Altersgruppen aus. Laut Pflegereport 2019 liegt im Altersbereich zwischen 20 und 50 Jahren das Pflegerisiko der Privatversicherten bei nicht einmal 20 Prozent der gesetzlich Pflegeversicherten. Hier mache sich die Selektionswirkung der Risikoprüfung stark bemerkbar.
- Weitaus mehr Frauen als Männer sind gesetzlich pflegeversichert. 2016 lag der Frauenanteil in der sozialen Pflegeversicherung bei 53 Prozent, in der privaten Pflege hingegen nur bei 39 Prozent. Frauen haben aber eine höhere Lebenserwartung als Männer, im Schnitt leben sie 4,4 Jahre länger. Hier wirkt sich aus, dass Hochbetagte ein größeres Risiko haben, auf Pflege angewiesen zu sein. Von den 1,9 Millionen Pflegebedürftigen über 80 Jahren waren 2018 -laut Statistischem Bundesamt- 72 Prozent Frauen.
- Der hohe Frauenanteil trägt dazu bei, dass die Zahl der Hochbetagten in der sozialen Pflegeversicherung höher ist. Bei der Altersgruppe mit der höchsten Pflegequote, den über 80-Jährigen, liegt der Versichertenanteil in der SPV mit 6,4 Prozent um fast die Hälfte über dem entsprechenden Anteil in der PPV. Dies könnte sich aber bald umkehren. Denn der Anteil der 60- bis 79-jährigen Privatversicherten liegt mit 34,7 Prozent sogar über dem Anteil in der SPV (26,3 Prozent).
Pflegereport 2019 behauptet Entlastungswirkung
Die Autoren des Pflegereportes kommen durchaus zu der Einschätzung, dass eine Einbeziehung Privatversicherter das gesetzliche System entlasten kann: zumindest vorübergehend. "Unter Status-quo-Bedingungen der Beitragsgestaltung ergäbe sich hieraus ein Entlastungseffekt für die soziale Pflegeversicherung von rund 0,4 Beitragssatzpunkten", schreiben sie. Dies war allerdings noch vor der Pflegereform von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der Fall, die laut Schätzungen seines Ressorts weitere 6,4 Milliarden Euro im Jahr kosten soll.
Die Entlastungswirkung hat einen weiteren Grund: Privatversicherte sind finanzkräftiger. Das zeigen Auswertungen der Wissenschaftler auf Basis des Sozio-oekonomische Panel (SOEP) von 2018, der größten wiederkehrenden Haushaltsbefragung in Deutschland. Demnach sind Arbeiter sowie einfache und mittlere Angestellte weit häufiger im gesetzlichen System versichert. In der Sozialversicherung macht ihr Anteil 42,4 Prozent aus, während in der privaten Pflegeversicherung nur 5,6 Prozent diesen Berufsgruppen zuzuordnen sind: auch dadurch bedingt, dass Beschäftigte ein gewisses Mindesteinkommen brauchen, um sich privat versichern zu dürfen.
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Auch „Arbeitslose und sonstige Nichterwerbstätige“ sind weit häufiger im GKV-System zu finden (10,8 Prozent Anteil SPV zu 4,2 Prozent in PPV). Dem entgegen sind in der privaten Pflegeversicherung überproportional Personen mit gehobenen Positionen im Erwerbssystem versichert: Beamte und Pensionäre, hochqualifizierte und leitende Angestellte sowie Selbständige und Freiberufler. Laut Pflegereport verfügen gesetzlich Pflegeversicherte im Schnitt über ein jährliches Bruttogesamteinkommen von 24.790 Euro. Das der privat Pflegeversicherten ist mit 52.287 Euro mehr als doppelt so hoch.