Versicherungsbote: Mein Eindruck: Fast alle Parteien, die zur Bundestagswahl 2021 antreten, halten das Rentensystem und die Altersvorsorge für reformbedürftig. Würden Sie für Ihre Partei zustimmen — weshalb muss der Status Quo verändert werden?

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Peter Weiß: Das Rentensystem und die Altersvorsorge haben sich grundsätzlich bewährt und wir haben viele Reformschritte schon in der Vergangenheit unternommen. Es bedarf jedoch der Prüfung, inwieweit man das Rentensystem generationengerecht und zukunftsfest weiterentwickeln kann. Das kann aber auch nur behutsam geschehen. Einen Neustart wünschen wir uns für die betriebliche und private Altersvorsorge, weil es hier an einer hinreichenden Verbreitung mangelt. Neben neuen innovativen Produkten braucht es hier auch mehr Verbindlichkeit.

Welche Elemente im Rentensystem wollen Sie beibehalten, weil Sie sagen: Das hat sich so bewährt?

Das Rentensystem hat sich in Gänze bewährt, so dass es hier nicht um einzelne Elemente, sondern das ganze System geht. Die Menschen haben Vertrauen in dieses System. Und das betrifft alle Rentenarten und ihre Voraussetzungen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Müssen die Bundesbürger Altersarmut fürchten — und was kann dagegen getan werden?

Die aktuelle Bedrohung ist recht gering, in Zukunft wird die Herausforderung aber größer. Gegen Altersarmut schützt die Grundsicherung im Alter. Auf sie sind etwa drei Prozent der Senioren angewiesen. Überdies führen wir gerade die Grundrente ein, die seit Jahresbeginn gilt. Sie lindert ebenfalls die Gefahr von Altersarmut. Zudem erhalten Menschen, die in der Gleitzone bis 1300 Euro verdienen, eine Beitragsentlastung, die sich nicht mindernd auf die Rente auswirkt. Das alles sind wichtige Punkte, aber der Staat fördert auch die Betriebsrente und die Privatvorsorge, die wichtige Bausteine zur Vermeidung von Altersarmut sind. Das Wichtigste sind aber eine gute Ausbildung sowie ein florierender Arbeitsmarkt, denn eine gute Erwerbsbiographie spiegelt sich in der Rente und der Altersvorsorge wider. Dort wo Rente und Altersvorsorge bislang nicht obligatorisch sind, müssen wir weitere Schritte erwägen – insbesondere sind sie bei ungesicherten Selbständigen notwendig.

Mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute, u.a. das DIW Berlin, plädieren dafür, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rente an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Die Begründung: immer mehr Rentnerinnen und Rentner stehen immer weniger Erwerbspersonen gegenüber. Werden die Deutschen künftig länger arbeiten müssen? Wenn nein: Was wären Alternativen, um eine längere Lebensarbeitszeit abzuwenden und dennoch den Rentenbeitrag stabil zu halten?

Bevor man sich den Überlegungen einer Rente z.B. mit 68 oder 70 Jahren widmet, muss man erst die Erfahrungen mit der Rente ab 67 Jahren auswerten, die gerade erst schrittweise bis 2030 eingeführt wird.

Als Ergebnis der Anhebung der Regelaltersgrenze wird es im Jahr 2031 dann die erste „echte“ Rente mit 67 geben. Wer 1964 oder später geboren ist, kann die Regelaltersrente dann erst mit 67 erhalten. Für die Geburtsjahrgänge bis 1963 erfolgt die Anhebung stufenweise.

Dass man die Regelaltersgrenzen jetzt bis 2030 anhebt und man ab 2030 zwei Jahre später in Rente gehen kann als 2011, ist das richtige Signal an die gestiegene Lebenserwartung. Diese Abläufe kann man aus Vertrauensschutzgründen auch nicht weiter verschärfen. Nicht jetzt, sondern erst in einigen Jahren ist die Zeit, über die Entwicklungen nach 2030 nachzudenken.

Dabei wird man einiges abzuwägen und auszuwerten haben. Dazu gehört die Frage, wie sich die Lebenserwartung und die Gesundheit im Alter weiter entwickeln. Dazu gehört auch, wie sich etwa die Pandemie auswirkt. Zu untersuchen ist auch, wie sich die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen in den Unternehmen entwickelt.

Braucht es eine weitere Flexibilisierung des Renteneintritts?

Wichtig ist ja, dass niemand heute nach dem Rentenrecht zu einem bestimmten Alter in Rente gehen muss. Man kann schon heute den Rentenbeginn hinausschieben. Für jeden Monat, den man später geht, erhöht sich die monatliche Rente um 0,5 Prozent. Für einen um ein Jahr hinausgeschobenen Rentenbeginn gibt es in der monatlichen Rente also einen sechsprozentigen Zuschlag. Das wissen viele nicht. Das könnten Wirtschaft und Beschäftigte auch freiwillig stärker ausnutzen. Und passend dazu könnte eine Alternative sein, diesen Anreiz dazu weiter auszubauen. Folglich muss man nicht unbedingt die Grenzen weiter anheben. Politik kann hier auch weiter anders nachsteuern.

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Im übrigen zeigen die Rentenversicherungsberichte auch, dass die Rente finanziell trotz der rentenpolitischen Maßnahmen besser aufgestellt und durch die Krisen gekommen ist, als vermutet. Ihre Rücklagen sind noch hoch, der Beitragssatz von 19,9 Prozent auf 18,6 Prozent gesunken. Das hatte sich alles besser entwickelt als vermutet. Akuter Handlungsbedarf besteht noch nicht oder besteht anders: Wichtiger als eine Regelaltersgrenze und demographische Fragen ist eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung - und dass wir rasch aus der Pandemie heraus kommen.

Selbstständige sollen ihre Altersvorsorge wählen können

Versicherungsbote: Jeder fünfte Deutsche erreicht das Rentenalter nicht, so geht aus Zahlen der Deutschen Rentenversicherung hervor. Eine geringere Lebenserwartung korreliert mit niedrigen Einkommen, brüchiger Erwerbsbiographie und auch körperlich schweren Tätigkeiten. Zugleich erwarten ganze Branchen im Schnitt niedrige Renten: Unterdurchschnittliche Rentenansprüche werden zum Beispiel in der Altenpflege, im Einzelhandel und in der Landwirtschaft erwartet. Droht hier ein Gerechtigkeitsdefizit - wenn ja, wie kann gegengesteuert werden?

Peter Weiß: Die wichtigsten Stellschrauben, um das Problem unterdurchschnittlicher Renten und brüchiger Erwerbsbiographien in den von Ihnen genannten Bereichen anzugehen, sind gute Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne. Nehmen wir Ihr Beispiel der Altenpflege. In der zu Ende gehenden Wahlperiode haben wir gesetzgeberisch hier einiges auf den Weg gebracht. So haben wir mit dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz einen wichtigen Schritt für gute Löhne in der Pflege getan. Wir haben festgelegt, dass die Sozialpartner – also Arbeitnehmer und Arbeitgeber – gemeinsam und vor allem flächendeckend für Mindestentgeltsätze und für gute Arbeitsbedingungen sorgen sollen.

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Daran ansetzend haben wir im Rahmen des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes noch in den letzten Sitzungswochen eine Neuregelung verabschiedet, wonach die verpflichtende Tarifentlohnung für Pflegekräfte in der stationären und ambulanten Pflege ab 1. September 2022 grundsätzlich zur Zulassungsvoraussetzung für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen gemacht wird. Arbeitgeber müssen bis dahin entweder einen Tarifvertrag mit einer Gewerkschaft abschließen oder die Lohnvereinbarung aus einem gültigen Tarifvertrag in ihrer Region für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernehmen.

Im Einzelhandel liegen niedrige Einkommen oft daran, dass hier besonders viel Teilzeit gearbeitet wird. Hier haben wir eine neue Gleitzone eingezogen, die jetzt bis 1300 Euro zu Entlastungen bei den Sozialabgaben führt, ohne dass die Rentenansprüche gekürzt werden.

Wie positioniert sich Ihre Partei zu einer Altersvorsorge-Pflicht für Selbstständige – und wie könnte diese gestaltet sein? Mindestens 700.000 Selbständige sorgen nicht für ihr Alter vor, so eine DIW-Studie. Dennoch haben diese Menschen im Alter Anrecht auf Grundsicherung und werden mit Steuergeldern aufgefangen.

Das Problem soll angegangen werden. Selbstständige sollen zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und anderen insolvenzsicheren und zugriffsgeschützten Vorsorgearten wählen können. Wir werden Lösungen entwickeln, die auf bereits heute selbstständig Tätige Rücksicht nehmen und Selbstständige in der Existenzgründungsphase nicht überfordern.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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