DIE LINKE: Der demografische Wandel ist gestaltbar und keine Naturkatastrophe
Wie wollen die Parteien, die bei der anstehenden Bundestagswahl Chancen auf einen Einzug in den Deutschen Bundestag haben, das Rentensystem reformieren? Und wollen sie es überhaupt? Hierzu hat der Versicherungsbote einen gleichlautenden Fragebogen an die Parteien geschickt. Für die Linke antwortete Matthias W. Birkwald, Parlamentarischer Geschäftsführer und Rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
Versicherungsbote: Mein Eindruck: Fast alle Parteien, die zur Bundestagswahl 2021 antreten, halten das Rentensystem und die Altersvorsorge für reformbedürftig. Würden Sie für Ihre Partei zustimmen — weshalb muss der Status Quo verändert werden? Welche Elemente im Rentensystem wollen Sie beibehalten, weil Sie sagen: Das hat sich so bewährt?
Matthias W. Birkwald: Wir LINKEN wollen eine gesetzliche Rente, die den Lebensstandard wieder sichern möge und die zuverlässig vor Armut im Alter und Erwerbsminderung schützt. Das ist für viele Menschen die Grundlage für ein sorgenfreies und selbstbestimmtes Leben. Nur mit einer reformierten gesetzlichen Rente ist außerdem sichergestellt, dass Erwerbsunterbrechungen oder -ausfälle aufgrund von Arbeitslosigkeit, Kindererziehung oder der Pflege Angehöriger, aber auch Zeiten der Beschäftigung im Niedriglohnsektor im Alter nicht zwangsläufig zu Armut führen.
Anzeige
Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Müssen die Bundesbürger Altersarmut fürchten — und was kann dagegen getan werden?
Schon heute gelten nach der offiziellen EU-Statistik 18 Prozent aller Menschen ab 65 Jahren als arm. In absoluten Zahlen sind das 1,3 Millionen Männer und 1,7 Millionen Frauen, also drei Millionen Menschen. (EU-SILC 2019: Haushaltseinkommen weniger als 1.176 Euro). Altersarmut ist also schon heute Realität.
Um das Verhältnis von angemessenen Löhnen, einer existenzsichernden Mindestsicherung und einem lebensstandardsichernden Rentenniveau wieder in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu bringen, fordert DIE LINKE die schrittweise Anhebung des Rentenniveaus auf lebensstandardsichernde 53 Prozent, so wie im Jahr 2000, und die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 13 Euro.
Die von mir erfragten Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigen, dass wir von einem angemessenen gesetzlichen Mindestlohn aktuell sehr weit entfernt sind: Damit man ohne Anspruch auf die sogenannte „Grundrente“ nach 45 Jahren Arbeit nicht gezwungen wäre, zum Sozialamt (Grundsicherungsschwelle 2020: 835 Euro) zu gehen, müsste der gesetzliche Mindestlohn heute 12,12 Euro brutto betragen und nicht 9,60 Euro.
Die Wiederanhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent bedeutet in Euro und Cent: Wer derzeit die aktuelle Durchschnittsrente von 1.048 Euro erhält, erhielte dann 1.150 Euro, also rund 100 Euro mehr im Monat. Das Rentenniveau von derzeit 48,3 Prozent (ohne Revisionseffekt) kann problemlos innerhalb einer Wahlperiode auf 53 Prozent angehoben werden. Das kostete Beschäftigte und Arbeitgeber*innen bei einem durchschnittlichen Verdienst von 3.462 Euro nur je circa 34 Euro mehr im Monat.
Außerdem wollen wir Zeiten niedriger Löhne ausgleichen. Die von der Großen Koalition beschlossene sogenannte „Grundrente“ greift hier zu kurz. Wir wollen die »Rente nach Mindestentgeltpunkten« auch für Zeiten nach 1992 einführen und verbessern.
Zeiten der Erwerbslosigkeit, der Kindererziehung und der Pflege bewerten wir höher, damit sie nicht zu Armutsrenten führen.
Und wir wollen eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente von 1.200 Euro netto für all jene Menschen ab 65 und bei Erwerbsminderung einführen, die trotz dieser Reformmaßnahmen in der Rente ein zu niedriges Alterseinkommen haben, um davon leben zu können. Die Solidarische Mindestrente wird deshalb von der Rentenversicherung an alle Menschen im Rentenalter als Zuschlag gezahlt, die im Alter weniger als 1.200 Euro Nettoeinkommen haben. Die Solidarische Mindestrente ist einkommens- und vermögensgeprüft, das heißt, um sie zu erhalten, darf man maximal eine ortsübliche Immobilie sein Eigen nennen und nicht mehr als knapp 70.000 Euro Vermögen haben. Die Solidarische Mindestrente soll ausschließlich aus Steuern finanziert werden.
Mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute, u.a. das DIW Berlin, plädieren dafür, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rente an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Die Begründung: immer mehr Rentnerinnen und Rentner stehen weniger Erwerbspersonen gegenüber. Werden die Deutschen künftig länger arbeiten müssen? Wenn nein: Was wären Alternativen, um eine längere Lebensarbeitszeit abzuwenden und dennoch den Rentenbeitrag stabil zu halten?
Der demographische Wandel ist politisch gestaltbar und keine Naturkatastrophe, gegen die nur Rente kürzen oder länger arbeiten hülfe. Länger arbeiten heißt aber nichts anderes als die Rente zu kürzen - und zwar bei zu vielen leider auf null Euro. 27 Prozent der Männer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohnes sterben vor ihrem 65. Geburtstag, bei Frauen sind es 13 Prozent. Jede und jeder Sechste musste 2019 vorzeitig wegen Krankheit eine Erwerbsminderungsrente beantragen. Das Durchschnittsalter lag hier bei 53 Jahren. Chronische Krankheiten und Erwerbsminderungsrenten sind heute eines der größten Armutsrisiken. Bei diesen Zuständen auf dem Arbeitsmarkt verbietet sich jede Debatte über eine Anhebung der Regelaltersgrenze. Wir LINKEN lehnen eine Rente erst ab 67 und erst Recht eine Rente erst ab 70 ab. Wer so etwas fordert, hat nicht alle Tassen im Schrank.
Eine gute Rente ist mit einer moderaten Beitragssatzerhöhung und der Rückkehr zu einer echten Parität auch bei der Zusatzvorsorge langfristig finanzierbar, wenn man denn politisch will. Zur Gestaltbarkeit nur eine Zahl von dieser Woche. Eine neue Studie des arbeitgebernahen IW Köln hat ergeben: 70 Prozent aller Mütter mit Kindern unter drei Jahren gehen keiner Erwerbsarbeit nach, aber nur bei 27 Prozent entspricht das auch dem Wunsch der Mutter. Der häufigste Grund: fehlende gute Kinderbetreuungseinrichtungen. Und wir wissen auch: 100.000 mehr Beitragszahlende bringen im Jahr eine halbe Milliarde Euro in die Rentenkasse.
Zu guter Letzt: Arbeiten nach der Regelaltersgrenze lohnt sich heute schon. Pro Monat erhält man 0,5 Prozent mehr Rente und erwirbt zusätzlich Entgeltpunkte. Nach zwei Jahren hat man gut 17 Prozent mehr Rente. Anreize zum längeren Arbeiten sind genug da. Jetzt liegt es doch nur noch an den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, endlich mal in alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze zu investieren statt immer wieder eine Rente erst ab 70 per Gesetz zu fordern.
Wie positioniert sich Ihre Partei zu einer Altersvorsorge-Pflicht für Selbstständige – und wie könnte diese gestaltet sein? Mindestens 700.000 Selbständige sorgen nicht für ihr Alter vor, so eine DIW-Studie. Dennoch haben diese Menschen im Alter Anrecht auf Grundsicherung und werden mit Steuergeldern aufgefangen.
Als LINKES Kernprojekt beziehen wir alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Dazu haben wir ein Konzept entwickelt, das Solidarität und soziale Gerechtigkeit mit finanzieller Solidität und Stabilität verbindet. Wir stärken damit die gesetzliche Rentenversicherung und verhindern Armut im Alter und bei Erwerbsminderung. Unser Konzept der Solidarischen Erwerbstätigenversicherung bietet eine gesetzliche Alterssicherung auch für bislang nicht versicherte Selbstständige, Freiberufler*innen, Beamt*innen, Manager*innen und Politiker*innen. Wir wollen, dass alle Erwerbstätigen Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zahlen.Wichtig ist aber auch, genau zu prüfen, welche Möglichkeiten sich anbieten, die Auftraggeber und Auftraggeberinnen in einem Umfang an den Sozialversicherungsbeiträgen zu beteiligen, der im Wesentlichen dem Arbeitgeberanteil entspricht. Leider hat es die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode versäumt, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Die Fragen stellte Mirko Wenig