Der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz nannte das Urteil „cool“: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) räumte den Beschwerdeführern mit seinem Beschluss vom 24. März 2021 umfangreiche Rechte auf die Wahrung künftiger Entfaltungsfreiheiten ein. Im Kern ging es darum, dass die Verfehlung der Klimaschutz-Zielvorgaben dazu führt, dass in Zukunft weitaus härtere Maßnahmen ergriffen werden müssten, um das Versäumte nachzuholen.

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Anders formuliert: Die künftigen Generationen haben ein Recht darauf, die Lasten des Klimawandels nicht allein tragen zu müssen. Die Versäumnisse der Gegenwart dürften keine „eingriffsähnliche Vorwirkung“ entfalten, die zur Einschränkung der Freiheitsrechte in der Zukunft führt.

In dem als „Klimaurteil“ bekannt gewordenen Beschluss forderten die Richter die Bundesregierung auf, die Klimaschutzziele deutlich zu verschärfen, da ein Verschieben auf die Zukunft die Freiheitsrechte der jungen Generation verletzen würde. Jede Generation müsse einen Beitrag zum Klimaschutz leisten: es sei Unrecht, die Folgen des Klimawandels allein künftigen Generationen aufzubürden.

Bei seiner Entscheidung bezog sich das Gericht auf Artikel 20a des Grundgesetzes. Darin heißt es: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung."

Generationengerechtigkeit betrifft nicht nur Klimaschutz

Es geht also um Generationengerechtigkeit - und die ist auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen gefragt. Besonders naheliegend ist hier der Begriff ‚Generationenvertrag‘ aus der Renten- und Sozialpolitik. Lässt sich der Beschluss des BVerfG auch auf dieses Rechtsgebiet übertragen?

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Versicherungsbote fragte bei Kanzlei Baumann aus Leipzig nach. „Der von uns erwirkte Beschluss des BVerfG zum Klimaschutzgesetz wird auch abseits des Umweltrechts neue Debatten anstoßen. Denn der Gedanke der generationsgerechten Grundrechtsauslegung kann grundsätzlich auch auf den Bereich der sozialen Sicherungssysteme und weitere Bereiche, die von intergenerationaler Bedeutung sind, übertragen werden“, so Dr. Franziska Heß, Fachanwältin für Verwaltungsrecht und Partnerin der Kanzlei Baumann Rechtsanwälte gegenüber Versicherungsbote.

Generationengerechtigkeit ist Forderung des Grundgesetzes

Mit dieser Ansicht ist die Juristin nicht allein. Zwei Rechtswissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg haben sich genau der Frage nach Übertragbarkeit der Entscheidung auf andere Rechtsgebiete gewidmet. Erschienen ist ihr Beitrag auf der Webseite ‚Verfassungsblog’; überschrieben mit ‚Ein Grundrecht auf Generationengerechtigkeit?‘

Darin gehen Dr. Katja Rath und Martin Benner auf die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein, die im Klimabeschluss formuliert wurden. So stellte das BVerfG fest, dass das Grundgesetz „[…] zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“ verpflichtet. Aus dem Klimabeschluss würde folgen, dass „nicht einer Generation zugestanden werden darf, unter vergleichsweise milder Belastung große Anteile einer begrenzten Ressource zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Last überlassen würde und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt wäre.“

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Der Sozialstaat ist also nicht nur in der Gegenwart zu garantieren, sondern auch künftigen Generationen zu erhalten. Die Juristen weisen darauf hin, dass selbst das BVerfG in Entscheidungen zum Ausbleiben der Rentenerhöhung bei gleichzeitiger Erhöhung der Krankenkassenbeiträge den Begriff ‚Generationengerechtigkeit‘ verwendet hat. Ganz neu ist der Gedanke also nicht. 2006 strebten einige Mitglieder des Bundestags fraktionsübergreifend gar eine Grundgesetzänderung an, die diesem Gedanken Rechnung trägt. So sollte die Staatszielbestimmung in Grundgesetz (Artikel 20b) wie folgt angepasst werden: „Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen.“

Generationengerechtigkeit ist Forderung des Grundgesetzes

Einen vergleichbaren Ansatz verfolgte der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, der auch in der Versicherungsbranche kein Unbekannter ist. Sein Ergänzungsvorschlag für Artikel 20 im Grundgesetz: „Die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung berücksichtigen das Ziel einer dauerhaften Befriedigung des Gemeinwohls und der Belange auch künftiger Generationen.“

Dass Generationengerechtigkeit bei heutigen Entscheidungen mitgedacht werden sollte, ist also keineswegs exotisch, sondern eine Forderung des Grundgesetzes. Die Entscheidung des BVerfG lässt sich nach Auffassung von Dr. Rath und Benner auf andere Rechtsgebiete übertragen. Die beiden Autoren nennen explizit die sozialen Sicherungssysteme, allen voran die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Gerade dort bestünde die „Gefahr künftiger Freiheitseinschränkungen, die im derzeit geltenden Recht angelegt ist und daher potentiell auch eine gegenwärtige und eigene Grundrechtsbetroffenheit begründet.“

Das erklären die beiden Autoren genauer: „Das bestehende System der Sozialversicherungen birgt vor allem mit Blick auf den demografischen Wandel die Gefahr, dass die Gesamtbeiträge schon im Jahr 2060 bei einem Status-Quo-Szenario auf über 50 Prozent steigen werden und das Rentenniveau auf 40 Prozent sinken wird. Ob diese Modellrechnung eintreten wird, lässt sich (noch) nicht feststellen. Das Risiko gravierender Beschränkungen, das mit ihr einhergeht, nimmt jedoch zu, wenn notwendige Strukturreformen weiterhin von Legislaturperiode zu Legislaturperiode verschoben werden. Denn dadurch könnte der Fall eintreten, dass künftigen Generationen nur noch signifikante Leistungseinschränkungen oder durchgreifende Strukturreformen bleiben, um derart immense Beiträge zu vermeiden. Hiermit wäre wiederum die Ausübung von allgemeinen Freiheitsrechten, die direkt oder indirekt mit dem Erhalt und der Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherungen zusammenhängen, bedroht.“

In diesem Satz steckt einige Sprengkraft. Gibt es in Sachen gesetzlicher Rentenversicherung nach der Bundestagswahl weiterhin nur ein ‚Weiter so‘, müsste ein enormer Anteil der künftigen Bundeshalte für die Rentenzuschüsse reserviert bleiben. Das Geld für Investitionen in Bildung oder Infrastruktur würde fehlen. Darin wäre - der Argumentation des BVerfG folgend - eine Beschneidung der Freiheitsrechte künftiger Generationen zu sehen.

Sozialversicherungssysteme und „naturgesetzliche Irreversibilität“

Allerdings wird im BVerfG-Klimabeschluss auch stark mit „naturgesetzlicher Irreversibilität“ argumentiert. Dieser Begriff lässt sich schwieriger auf den Bereich der Sozialsysteme übertragen; schließlich könnten Beiträge, Leistungen und Bundeszuschüsse angepasst werden. Die beiden Rechtswissenschaftler denken das mit und halten dem entgegen, dass nicht auszuschließen sei, dass die Sozialsysteme in eine unumkehrbare Situation gebracht werden könnten, aus der kein „freiheitsschonender Weg mehr herausführt“.

Eine solche Situation, aus der kein „freiheitsschonender Weg“ herausführt, droht eben, wenn künftigen Generationen sozusagen die Budgetfreiheit genommen wird, indem ein Großteil aller verfügbaren Mittel in Umlagesystemen gebunden ist.

Vor nichts anderem warnt auch der ehemalige Wirtschaftweise Axel Börsch-Supan. Um seinen Standpunkt - nämlich, dass ein ‚Weiter so’ unweigerlich in einer Sackgasse enden muss - zu verdeutlichen, hat der Ökonom das Festhalten an den jetzigen Haltelinien ‚hochgerechnet‘. Ergebnis: Bis 2060 müsste der Bund über 55 Prozent des Etats der Deutschen Rentenversicherung zuschiessen.

„Sämtliche Säulen des gesellschaftlichen Lebens abklopfen“

Die beiden Juristen Rath und Benner schreiben, dass die BVerfG-Klimaentscheidung Anlass sein müsse, „sämtliche Säulen des gesellschaftlichen Lebens, bei denen Entscheidungen der Gegenwart zu Lasten für künftige Generationen führen, auf mögliche Beschränkungen der intertemporalen Freiheiten abzuklopfen.“ Dabei sei zu fragen, ob die zu erwartenden möglichen Beschränkungen gerechtfertigt sind.

Das Fazit der Juristen: Generationengerechtigkeit könne auch rechtsgebietsübergreifend im Sinne einer Gesamtbilanz verstanden werden. Steigende Ausgaben in der Gegenwart, z.B. im Gesundheitswesen oder Altersvorsorge, könnten diesem Verständnis nach mit Investitionen in die Zukunft (Bildungswesen, soziale Infrastruktur) ausgeglichen werden.

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Zurück zu Olaf Scholz: Der Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat fand an dem Beschluss ‚cool’, dass er feststellte, Ziele zu haben sei schön, sagen, wie es geht, sei besser.
Künftigen Rentnern bleibt wohl nur zu hoffen, dass es nicht wieder einen Beschluss des Bundesverfassungsgericht braucht, bis sich Politiker zu einer Rentenreform durchringen, die den Namen auch verdient hat.

Hinweis: Der Text erschien zuerst im Sonderheft Altersvorsorge.

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