Der digitale Arztbesuch ist in anderen Ländern längst Realität: so auch in der Schweiz. Die eidgenössischen Ärzte dürfen Krankschreibungen und Rezepte auch dann ausstellen, wenn ein Patient lediglich per Video in der Praxis vorstellig wurde: zumindest bei bestimmten Krankheitsbildern.

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Das wollte auch der deutsche Krankenversicherer Ottonova nutzen. Gemeinsam mit Eedoctors, einem führenden Schweizer Telemedizin-Anbieter, sollten Versicherte online ihren Arzt konsultieren können. “Nie mehr mit Schnupfen zum Arzt schleppen: Mit unserem Arzt-Video-Call erhältst du Diagnosen, Rezepte und Krankschreibungen einfach und schnell über die App“, warb das Unternehmen auf seiner Webseite. Das Problem ist nur: In Deutschland war es bisher gängige Regel, dass ein Patient in der Praxis vorstellig werden muss, um seine ärztliche Prognose zu erhalten. Zudem sitzt Eedoctors im Ausland. Die Wettbewerbszentrale sieht in der Werbung einen Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz und klagte auf Unterlassung.

Sowohl vor dem Landgericht München als auch dem Münchner Oberlandesgericht musste sich Ottonova geschlagen geben, denn in Paragraph 9 des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) verbat bisher Fernbehandlungen mit wenigen Ausnahmen. Ottonova aber ging in Revision: und kann nun auf ein Happy End vor dem Bundesgerichtshof (BGH) rechnen.

Gesetzrevision macht Hoffnung auf legale Fernbehandlung

Wie aktuell die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet, hat der BGH bei einer Verhandlung am Donnerstag signalisiert, dass er Ottonova in Teilen entgegenkommen könnte. Demnach habe der Vorsitzende Richter des 1. Zivilsenats, Thomas Koch, darauf hingewiesen, dass neue Gesetze die Möglichkeiten der Telemedizin erweitern und auch veränderte Behandlungen erlauben könnten. Konkret gemeint ist eine Novellierung von besagtem Paragraphen 9 des HWG. Demnach sind nun Fernbehandlungen erlaubt, Zitat: „…wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“. Grundsätzlich zielte die HWG-Reform darauf, mehr digitale Techniken im Gesundheitswesen nutzbar zu machen: auch, um Kosten zu sparen.

Doch unter welchen Bedingungen genau ist ein Arztbesuch nicht erforderlich und Telemedizin folglich erlaubt? Die Formulierung im Gesetz ist vage. So hat auch die Wettbewerbszentrale nicht etwa gegen den Münchener Versicherer geklagt, um ihm ein Bein zu stellen: Es gehe auch um eine Grundsatz-Entscheidung, was via Ferndiagnose erlaubt sein soll und was nicht. Das Oberlandesgericht München hatte in seinem Urteil noch hervorgehoben, dass der persönliche Kontakt wichtigster Standard in der ärztlichen Behandlung sei. BGH-Richter Thomas Koch kommentierte nun diesen Grundsatz mit: „Das ist möglicherweise, meinen wir, so nicht richtig.“ Das Urteil soll frühestens in acht Wochen ergehen.

Im Zentrum steht dabei auch die Frage, ob und wie Ärzte auf Distanz überhaupt Krankheiten diagnostizieren und erkennen können. Das Abtasten und Abhören des Patienten ist hierbei noch immer ein einfaches, aber wichtiges Mittel für eine Diagnose. Folglich empfehlen einige Mediziner die Fernbehandlung für weiterführende Therapien, nicht aber für den Erstkontakt mit dem Arzt.

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Bedenken bestehen auch, dass Patienten sich auf diese Weise einfacher krankschreiben lassen könnten: ohne dass tatsächlich eine Krankheit vorliegt. So urteilte etwa auch das Bundessozialgericht, dass es nicht gestattet ist, die Arbeitsunfähigkeit per Ferndiagnose bescheinigen zu lassen: und entsprechend Anrecht auf Krankengeld einzufordern. Hier hatte ein Arbeitnehmer geklagt, der wegen eines operationsbedürftigen Leistenbruchs Krankengeld anforderte, dies aber nicht erhielt: Ein Ärztin hatte lediglich per Fax eine Prognose geschrieben, aber den Patienten nicht selbst gesichtet und krankschreiben lassen (AZ: B 3 KR 6/20 R).