„Mehr als jeder zweite ausgegebene Euro kommt aus dem Portemonnaie der Über-50-Jährigen!“
„Sie brauchen keine neuen Kunden. Nehmen Sie die Alten“: Mit diesem Motto wurde Helmut Muthers zu einem erfolgreichen Berater und Speaker. Der Betriebswirt und frühere Banken-Vorstand erklärt im Interview, warum Versicherer und Vermittler auf diese Zielgruppe eigentlich nicht verzichten können. Und weshalb Vorurteile bei Älteren eine erfolgreiche Kundenansprache behindern.
- „Mehr als jeder zweite ausgegebene Euro kommt aus dem Portemonnaie der Über-50-Jährigen!“
- Der frühere Dreiklang „65 – Rente – Alt“ hat ausgedient
Versicherungsbote: Die einzige Bevölkerungs- und damit Kundengruppe, die wächst, sind ‚Best Ager‘. Was zeichnet diese Zielgruppe aus?
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Helmut Muthers: Demographischer Wandel bedeutet mehr als Alterung oder Bevölkerungsrückgang. Es wandeln sich Einstellungen, Lebensstile,
Haushaltsformen und damit Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten. Die ausbezahlte Lebensversicherung, die Erbschaft, der Herzinfarkt, der Auszug der Kinder, eine Scheidung, der Jobverlust, die beginnende Rente, die Geburt des Enkelkindes… All das hat massive Auswirkungen auf die Konsumgewohnheiten der Menschen.Wir müssen uns bewusst machen, dass wir es heute mit einer doppelten Alterung zu tun haben: Erstens wächst die Zahl der Älteren deutlich und zweitens sterben sie immer später. Die Lebenserwartung vor 100 Jahren betrug um die 50. Heute leben die Menschen in Deutschland gut 80 Jahre im Durchschnitt. Die Alterung ist also kein Schnupfen, der vorbei geht.
Die längste Erwachsenen-Lebenszeit verbringen die Menschen heute in der zweiten Lebenshälfte. Und auch nach dem Renteneintritt haben viele noch 1/3 ihres Lebens vor sich.
/ Das oft gehörte Vorurteil: „Bei den Älteren ist nichts zu holen“ ist kompletter Unfug. Wir haben es bei den Älteren nicht nur mit der einzigen wachsenden Bevölkerungs- und Kundengruppe zu tun, sondern auch mit der reichsten. Sie besitzen über 700 Milliarden Euro Kaufkraft und mehr als jeder zweite Euro, der heute ausgegeben wird, kommt aus dem Portemonnaie der über 50-Jährigen. Sie besitzen bis zu 85 Prozent des Kundenvermögens bei Banken. Mit ihrem Kaufverhalten bestimmen sie die Existenz der Unternehmen fast aller Branchen.
Inwiefern kaufen ältere Menschen anders als jüngere?
Die heutigen älteren Menschen sind fiter, mobiler, wohlhabender, interessierter, selbstbewusster, kritischer und anspruchsvoller als jede Generation vor ihnen.
Die längere Lebenszeit hat dazu geführt, dass neue Bedürfnisse und Wünsche entstanden sind, dass sich neue Lebensstile herausgebildet haben und sie heute mit 65 nicht im Schaukelstuhl auf den Tod warten, sondern Zukunftspläne schmieden.
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Verkaufen an Ältere ist zu 100 Prozent Emotion. Wer sie als Senioren anspricht, ist chancenlos. Sie sind unberechenbar und sollten nicht unterschätzt werden, denn sie wissen um ihre Marktmacht und setzen sie ein. Sie sind heimtückisch und gnadenlos. Wer nicht auf ihre Bedürfnisse eingeht, bekommt keine zweite Chance.
Ihre wichtigsten Kauf-Motive sind Sicherheit, Gesundheit und Bequemlichkeit. Sie lieben Kontinuität, zum Beispiel in der Person des Verkäufers. Sie lieben Einfachheit, zum Beispiel beim iPad. Sie lieben Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, zum Beispiel beim Handwerker.
Sie kaufen, wo sie sich wohlfühlen. Dabei sind die Mitarbeiter entscheidend. Nicht Büroräume, Produkte, technische Geräte. Der Preis spielt nur dann eine Rolle, wenn da sonst nichts ist.
Persönlicher Kontakt hat die höchste Priorität. Wir müssen verstehen, dass das kein Sozialklimbim ist, sondern knallharte Betriebswirtschaft.
Der frühere Dreiklang „65 – Rente – Alt“ hat ausgedient
Bei einigen Versicherungs- und Finanzprodukten kann es im fortgeschrittenen Alter schwierig werden, passenden Schutz zu bekommen. Zum Beispiel bei der privaten Unfallversicherung. Müssen die Anbieter hier dazulernen? Sehen Sie entsprechende Änderungen?
Zunächst einmal müssen die Anbieter verstehen, dass der frühere Dreiklang „65 – Rente – Alt“ ausgedient hat. Mit einem 50- oder 60-jährigen Kunden kann ich heute noch 40 oder 30 Jahre Geschäfte machen – wenn ich entsprechende Angebote habe.
Heute bauen 60-Jährige vielleicht ihr drittes Haus oder kaufen mit 65 eine Eigentumswohnung. Der älteste Kunde einer Holzhausfirma ist 82. Wer Altersgrenzen für die Kreditvergabe hat, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Und wer bei Renteneintritt den Dispositionskredit streicht, wird bei den Älteren scheitern.
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Ebenso widersinnig ist es, wenn Versicherungsgesellschaften ältere Kunden durch Zuschläge bestrafen – sie sollten ihnen danken und kostenfreie Zusatzleistungen anbieten. Wer so agiert, hat keine Chance.
Es gibt zunehmend mehr Menschen, die sich jenseits der 50 oder 60 selbstständig machen, im Übrigen mit besserem Erfolg als Jüngere. Wer bietet Finanz- und Versicherungsleistungen für eine 74-Jährige, die sich den Traum von einer Apotheke erfüllt?
Es braucht also zunächst einmal eine komplette Überprüfung der Vorurteile und eine altersgerechte Geschäftspolitik. Älterwerden ist keine Krankheit.
Wenn heutige Senioren aktiver und gesünder sind als früher, spricht das doch für eine längere Lebensarbeitszeit?
Das ist mir zu pauschal. Ich bin ein Freund von Selbstbestimmung und gegen die heutige Zwangspensionierung. Wie lange ein Mensch – auch unter Berücksichtigung seiner finanziellen Situation - arbeiten will oder kann, sollte seiner Entscheidung überlassen werden. Niemand anderer kann beurteilen, ob sich jemand für eine Aufgabe fit genug fühlt. Selbstständige genießen das Privileg, solange arbeiten zu dürfen, wie es ihnen Spaß macht. In Skandinavien und England wurde die Zwangspensionierung abgeschafft.
Übrigens, bei Einführung der Rentenversicherung war das Renteneintrittsalter bei 70 Jahren fixiert. Es wurde 1916 auf 65 heruntergesetzt.
Bei uns ist die Lebensarbeitszeit ein wirtschaftspolitisches Datum. Viele erinnern sich noch an die Zeit, als mit großen finanziellen Anstrengungen Mitte oder Ende 50-Jährige vorzeitig in Rente geschickt wurden. Heute sollen die Menschen deutlich länger arbeiten. Mit besonderer Fürsorge für die Gesundheit der Menschen hat das nichts zu tun.
Einige Parteien wollen die Arbeitsbedingungen für ältere Mitarbeitende verbessern. Was genau könnte das bedeuten?
Nun, die beschriebene Abschaffung der Zwangspensionierung wäre ein erster Schritt. Den Rest werden die Unternehmen leisten müssen. Denn die werden ohne die Älteren kaum eine Chance haben, weil es schon seit vielen Jahren nicht mehr ausreichend junge Menschen für den Arbeitsmarkt gibt. Sie werden auf die besonderen Bedürfnisse der Älteren eingehen müssen. Wer von einem 60-Jährigen eine körperliche Leistung wie von einem 25-Jährigen erwartet, wird scheitern. Wie heißt es so schön: Die Jungen laufen schneller, die Älteren kennen die Abkürzungen.
Was raten Sie Versicherungsvermittlern, die gezielt ‚Best Ager‘ ansprechen wollen? Wie sollten diese Vermittler am besten vorgehen?
Sprechen Sie sie mit ihrem Namen an – persönlich oder in schriftlicher Form. Suchen Sie den persönlichen Kontakt und stellen Sie sicher, dass der Vermittler nicht alle zwei Monate ein neues Gesicht hat.
Laden Sie ältere Menschen zu Veranstaltungen ein, die Ihnen einen hohen Nutzen versprechen: Wie finde ich eine passende Eigentumswohnung, eine Residenz? Wie schreibe ich eine Patientenverfügung? Helfen Sie ihnen dabei, ihre Probleme zu lösen.
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Hinweis: Der Text erschien zuerst im Versicherungsbote Fachmagazin 02/2021.
- „Mehr als jeder zweite ausgegebene Euro kommt aus dem Portemonnaie der Über-50-Jährigen!“
- Der frühere Dreiklang „65 – Rente – Alt“ hat ausgedient