Aus meinem Verständnis heraus widersprechen Versicherungen mit rückwirkendem Schutz dem grundsätzlichen Versicherungsgedanken: Alle Versicherungsnehmer zahlen einen Beitrag in einen gemeinsamen Topf und sichern gegenseitig ihr persönliches Risiko ab. Im Schadenfall steht den Geschädigten eine bestimmte Summe aus diesem Topf zu. Die Versicherungsgemeinschaft steht füreinander ein und sichert mögliche Risiken ab, die unvorhergesehen eintreffen könnten. Die vorhersehbaren, konkreten Fälle spielen in diesem System keine Rolle.

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Versicherungsmakler Sven Nebenführ hat sich auf die Sparte Rechtsschutz spezialisiert.Bis zum Sommer 2019 war ein häufiger Streitpunkt zwischen Rechtsschutzversicherern und Versicherten der „Eintrittszeitpunkt des Versicherungsfalls“: Versicherer konnten die Ursache eines Rechtsstreits zeitlich rückverlagern und sich mit der Begründung auf einen vorvertraglich entstandenen Rechtsstreit von ihrer Deckungszusage befreien. In seinem Urteil vom 3. Juli 2019 hat der Bundesgerichtshof diese Interpretationsmöglichkeiten eingeschränkt und die zeitliche Einordnung dahingehend festgelegt, dass der Zeitpunkt der Pflichtverletzung als Eintrittsdatum des Versicherungsfalls ausschlaggebend ist. Das gilt sowohl für den Aktiv- als auch für den Passivprozess.

Wenn wir von rückwirkenden Versicherungsleistungen sprechen, dann spielt das Eintrittsdatum des Versicherungsfalls keine Rolle mehr. Ebenso wenig wie die drei bis fünfjährigen Vertragslaufzeiten, die Rechtsschutzversicherer normalerweise verlangen, bis sie vorvertraglich entstandene Schäden mit abdecken. Auf den ersten Blick profitieren die Versicherten auf ganzer Linie, denn nun scheinen auch vorhersehbare, konkrete Fälle versicherbar. Also ein echter Mehrwert? Mitnichten.

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Stellt man die Frage nach der Finanzierbarkeit von rückwirkenden Versicherungsleistungen, wird schnell klar, dass ein Beitragstopf nur im begrenzten Maße finanzielle Mittel zur Verfügung stellen kann. Spinnt man den Gedanken weiter, dass durch den Wegfall von Laufzeiten und Schadeneintrittsdatum nun auch vorhersehbare, konkrete Fälle versichert werden könnten, dann kann man sich vorstellen, wie schnell die Zahl der Versicherten steigen würde, die eine rückwirkende Versicherungsleistung gleich nach Abschluss ihrer „Rückwärtsversicherung“ in Anspruch nähmen. Wie groß müsste dieser Topf sein? Und wie hoch die Jahresbeiträge?

Rechtsschutzversicherung mit rückwirkender Leistung

Rechtsschutzversicherungspakete beinhalten mindestens fünf Leistungsarten. Aktuell gibt es nur einen Anbieter, der mit seinem Verkehrsrechtsschutzpaket eine Leistungsart rückwirkend versichert: die Verteidigung in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren. Bei einer Mindestlaufzeit von drei Jahren kostet das Verkehrsrechtsschutzpaket etwa das Vierfache des herkömmlichen Jahresbeitrags. Dafür gilt der erweiterte Versicherungsschutz für diese eine Leistungsart bereits vor Vertragsbeginn – doch für alle anderen Leistungsarten aus dem Verkehrsrechtsschutz eben nicht. Preis, Leistung und Nutzen stehen in einem Missverhältnis.

Rechtsschutzversicherung ohne Wartezeit

Bislang betrug die Wartezeit bei den klassischen Leistungsarten bis zu drei Monate. Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass sich bei vielen Leistungsarten die Wartezeiten verringern oder gar ganz entfallen, wie zum Beispiel beim Vertragsrechtsschutz. Beim Arbeitsrechtsschutz dagegen hält sich die dreimonatige Wartezeit weiterhin hartnäckig. Trotzdem entwickelt sich die Wartezeit bei Rechtsschutzversicherungen generell rückläufig – eine, wie ich finde, erfreuliche Tendenz.

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Situative Rechtsschutzversicherung

Situative Versicherungen im Rechtsschutz sind mir nicht bekannt. Situativ bedeutet, dass jemand sich aus einer spontanen Situation heraus für einen begrenzten Zeitraum absichern möchte. Voraussetzung für ein situatives Versicherungsangebot ist meines Erachtens ein hoher Digitalisierungsgrad bei Versicherern und Versicherten gleichermaßen. Leistungen müssen schnell hinzugebucht und wieder abbestellt werden können.

Dazwischen liegen eventuell nur wenige Stunden, die es zu versichern gilt. Prozesse müssen komplett abgebildet, automatisiert, digitalisiert, auf Datenschutzkonformität geprüft und vor allem gegen Missbrauch gesichert werden. Und es muss sich am Ende des Tages rechnen. Diesen Digitalisierungsgrad haben wir aus meiner Sicht noch lange nicht erreicht, auch wenn es bereits vielversprechende InsurTech-Unternehmen gibt. Außerdem ist für diese Art der Versicherungsleistung sowohl die Digitalisierungsbereitschaft als auch das Sicherheitsbedürfnis des Kunden entscheidend. Als Versicherungsmakler mit meinem hybriden Geschäftsmodell „Versicherungskonzept“ habe ich auf allen Seiten die Herausforderungen der Digitalisierung kennengelernt und beobachte die Entwicklung mit regem Interesse. Ich freue mich auf das, was die Zukunft bringt.

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Hinweis: Der Text erschien zuerst im Versicherungsbote Fachmagazin 02/2021.

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