BGH: Ottonova darf nicht für Fernbehandlung werben
Im Rechtsstreit um Fernbehandlungen via Telemedizin muss der private Krankenversicherer Ottonova eine Niederlage einstecken. Laut Bundesgerichtshof (BGH) sei es nicht rechtens, dass der Anbieter mit „digitalen Arztbesuchen“ bei Medizinern im Ausland warb. Ein Experte fordert, Schranken für die Digitalisierung im Gesundheitssystem abzubauen.
“Bleib einfach im Bett, wenn du zum Arzt gehst“: Mit diesem Slogan warb der Münchener Krankenversicherer Ottonova auf seiner Webseite für digitale Fernbehandlungen. Und weiter: "Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App.“ Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am Donnerstag entschieden, dass dies unzulässig ist. Demnach verstößt der Slogan gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 des Heilmittelwerbegesetzes (HWG).
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Es fehlen anerkannte Standards
Es fehle für solche „digitale Arztbesuche“ an den allgemeinen anerkannten fachlichen Standards, sagte der Vorsitzende Richter des ersten Zivilsenats am Donnerstag in Karlsruhe. Das sei ein im Bürgerlichen Gesetzbuch klar beschriebener Begriff, der Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag regele (nach § 630a Abs. 2 BGB). Solche Standards könnten sich auch erst im Laufe der Zeit entwickeln: Sie ergeben sich unter anderem aus Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): ein Gremium, das darüber entscheidet, welche medizinischen Leistungen Versicherte beanspruchen können.
Mit den allgemein anerkannten fachlichen Standards seien zudem nicht die Regelungen des für den behandelnden Arzt geltenden Berufsrechts gemeint. Es komme daher nicht darauf an, ob die beworbene Fernbehandlung den Ärzten in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt sei. Der Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards erfolge vielmehr unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff in § 630a Abs. 2 BGB, der die Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag regelt. Hier gelten besagte Leitlinien, die von den oben genannten Expertengremien entwickelt werden.
Hervorzuheben aber bleibt: Nicht die Fernbehandlung selbst wurde vom BGH untersagt, sondern nur die Werbung des Versicherers hierfür. Entsprechend positioniert sich Thomas Oßwald, General Counsel der Ottonova. „Wir müssen natürlich zunächst die Urteilsbegründung abwarten. Aber ist schwer nachvollziehbar, dass die Fernbehandlung einerseits von der Politik gewollt und dem Gesetzgeber erlaubt, die Werbung dafür aber verboten ist“, sagte er.
Befürworter der Telemedizin enttäuscht von Urteil
Für Befürworter der Telemedizin ist das Urteil eine herbe Enttäuschung. Die behandelnden Ärzte, mit denen Ottonova kooperierte, saßen mehrheitlich in der Schweiz. Dort ist der digitale Arztbesuch -trotz ähnlich hoher Standards im Gesundheitswesen wie hierzulande- längst Realität. Auch in einigen anderen Staaten, etwa in den USA.
Vor dem Urteil hatte der Versicherer noch gehofft, dass die Karlsruher Richter für mehr Freiheiten in der Telemedizin entscheiden. Aus zwei Gründen: eine Gesetzesnovelle hatte erst vor Kurzem besagten Paragraph 9 des Heilmittelwerbegesetzes erweitert, auch mit dem Ziel, digitale Techniken im Gesundheitswesen voranzutreiben. Demnach sind Ferndiagnosen erlaubt, Zitat: „…wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.“ Doch an genau diesen Standards fehlt es nun, wie der BGH bestätigt.
Grund zwei, weshalb man auf mehr Freiheiten hoffte: gerade die Corona-Zeit hat gezeigt, dass Fernbehandlungen in bestimmten Kontexten sinnvoll sein können. Weil man fürchtete, dass Patienten beim Besuch in der Arztpraxis andere mit Corona anstecken, waren während der Lockdowns Krankschreibungen und Diagnosen auch möglich, ohne dass Menschen mit Krankheitssymptomen persönlich ihren Arzt aufsuchen mussten.
Auf die Füße fiel Ottonova aber auch, dass man sehr pauschal für Fernbehandlungen warb. Die Versicherung hat laut Mitteilung des BGH für die „Erkennung und Behandlung von Krankheiten geworben, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen beruht“. Denn das verlange zum Beispiel auch, dass der Arzt den Patienten abhören, abtasten und abklopfen kann, wenn es darum geht, etwa eine Krebserkrankung zu erkennen. Oder technische Hilfsmittel wie Ultraschall zu nutzen. "Das erfordert die gleichzeitige physische Präsenz von Arzt und Patient und ist im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich“, führt der BGH aus.
"Systematische Schranken abbauen"
Enttäuscht vom Urteil zeigt sich auch Nico Hribernik, der 2018 Wellster Healthtech mitgegründet hat. Die Münchener sind mittlerweile einer der führenden Telemedizin-Anbieter auf dem deutschen Gesundheitsmarkt. “Es ist höchste Zeit, dass in Deutschland sichere Wege für die Digitalisierung im Gesundheitsbereich geschaffen werden. Das heutige Urteil zeigt leider sehr deutlich, welche Aufgabe dafür von unserem neuen Gesundheitsminister gemeistert werden muss: Es gilt die systematischen Schranken der Digitalisierung endlich abzubauen. Nur wenn digitale und analoge Medizin ineinandergreifen, können wir Menschen einen verbesserten Zugang zu ärztlicher Behandlung bieten und die Unterversorgung lösen”, sagte Hribernik dem Versicherungsboten.
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Laut Hribernik gehe es gar nicht darum, mit digitalen Angeboten die klassische Arztbehandlung zu ersetzen. “Digitale und analoge Medizin gehören zusammen und sollten ineinandergreifen. Wir dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen. Es ist doch völlig klar, dass wir beides brauchen. Aber dann müssen wir eben auch dafür sorgen, dass beide ihre Stärken ausspielen können. Das gilt insbesondere für die neuen, digitalen Angebote". Niemand fordere ernsthaft “Digital first” oder “Digital only”, erklärt der Gründer.