Der Pflegenotstand fand über Jahre keine Beachtung. In Zeiten der Pandemie wird deutlich, wie immens das Problem jetzt schon ist. Die Explosion der Anzahl Pflegebedürftiger, der Personalmangel sowie die weiter voranschreitende Kostensteigerung in der Pflege verschärfen die Lage zunehmend. Es ist offensichtlich, dass es neuer Ansätze bedarf, um in einer alternden Gesellschaft ein Altern der Einzelnen in Würde sicherstellen zu können.

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Micha Hildebrandt

Micha Hildebrandt

Micha Hildebrandt ist Vorstand bei der vigo Krankenversicherung VVaG. Das Unternehmen aus Düsseldorf gilt als Erfinder des flexiblen Pflegetagegeldes. Hildebrandt absolvierte seinen Zivildienst in der ambulanten Pflege und schenkt diesem Thema seither besondere Aufmerksamkeit.

In einem Ausblick auf die nächsten 20 Jahre beleuchte ich kurz die aktuelle Lage und wage einen Blick auf denkbare Entwicklungen. Vorsicht: Hier könnte eine Dosis (Galgen-)Humor und Sarkasmus im Subtext mitschwingen.

2022 (Status quo): Die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler spricht davon, dass 500.000 Mitarbeiter im Bereich der Pflege fehlen. Berichte machen die Runde, dass eine Mitarbeiterin in der ambulanten Pflege bis zu 26 Personen in ihrer Runde versorgen muss. Die vorgesehenen Personalschlüssel in Pflegeheimen werden in der Praxis regelmäßig gerissen. Die Arbeitsbedingungen werden von Pflegenden insgesamt kritisch bewertet. Dazu kommen die geringe Bezahlung und die gewünschte ständige Verfügbarkeit.

Ab Mitte März 2022 sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Einrichtungen, in denen besonders durch Covid-19 gefährdete Menschen behandelt oder betreut werden, einer Impfpflicht unterliegen. Dazu zählen insbesondere auch Alten- und Pflegeheime sowie ambulante Pflegedienste. Die Corona-Impfpflicht für diese Berufsgruppen wurde bereits beschlossen.

Bleibt zu hoffen, dass möglichst viele das Angebot der Impfung wahrnehmen und sich nicht gegen die Ausübung ihres Berufes entscheiden. Das würde kurzfristig (oder auch länger) zu einer weiteren Verschärfung führen.

Die Pflegebedürftigen nicht zu pflegen, ist natürlich keine Option. Aber wie kann es weitergehen?

2023: Die ersten Pflegekräfte aus Indien strömen in deutsche Krankenhäuser, Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Die Bundesagentur für Arbeit hatte vor Jahren mit dem indischen Bundesstaat Kerala eine Vermittlungsabsprache für Pflegefachkräfte unterzeichnet. Die Maßnahme wirkt wie ein Tropfen auf den heißen Stein und führt zu Mehraufwand in den Einrichtungen aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren. Das Programm wird aus politischen Gründen aufrechterhalten.

Kritiker fühlen sich bestätigt: Weder die damalige Greencard noch die spätere Blue Card führten seinerzeit dazu, (IT-)Fachkräfte in großer Zahl nach Deutschland zu locken. Wieso sollte das nun in der Pflege anders sein? Hinzu kommt der Umstand, dass die Gesellschaft in Indien ebenfalls altert – und zwar schneller als in Industrieländern. Die indischen Pflegekräfte werden in der Heimat benötigt.

2025: Ein Mal pro Woche folgt nach der Tagesschau eine Sondersendung zur Pflege. Ausgesuchte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Pflege berichten darin euphorisch von der sinnstiftenden Tätigkeit und rufen junge Menschen dazu auf, den Pflegeberuf zu ergreifen.

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Gesundheitsminister Karl Lauterbach macht in einem Talkshow-Marathon jeden Abend aufmerksam auf die Kampagne „20.000 € für deinen Pflegeabschluss“. Er mahnt an, dass die Einführung einer Pflegeausbildungspflicht geprüft werde und für alle Menschen gelten solle, die innerhalb von 6 Monaten nach Schulabschluss noch keine Ausbildung, kein Studium oder keine Arbeit aufgenommen hätten.

Das „Gute-Pflegeroboter-Weiterentwicklungsgesetz“

2027: Die deutsche Bundesregierung bringt ein milliardenschweres Subventionsprogramm für „universell einsetzbare Bewegungsautomaten in der Pflege“ auf den Weg. Zudem startet Robotikminister Andreas B. Scheuert eine Ausschreibung zur Beschaffung von Pflegerobotern, in welcher ein Gemeinschaftsunternehmen deutscher und französischer Konzerne ohne relevante Erfahrung in der Pflegerobotik überraschend den Zuschlag erhält.
Der Vertrag enthält – auf besonderes Verlangen des Bieters – eine Haftungsfreistellungsklausel, wonach der Hersteller der Pflegeroboter nicht für Sach- und Körperschäden aufkommen muss.

Dies wird erst bekannt, nachdem die Rasur-App zu zahlreichen Schnittverletzungen bei den Pflegepersonen führt und auch Todesfälle aufgrund defekter Akkus zu verzeichnen sind. Ein hektisch aufgesetzter Ausgleichsfonds (aus Mitteln, die für Bildungsroboter vorgesehen waren), soll für Beruhigung sorgen.

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B. Scheuert sieht sich Vorwürfen der Zweckentfremdung von Haushaltsmitteln sowie Verstößen gegen das Vergaberecht ausgesetzt. Trotz lauter Kritik bleibt der Minister im Amt.

2028: Das „Gute-Pflegeroboter-Weiterentwicklungsgesetz“ wird auf den Weg gebracht. Darin soll neben der Festlegung von DIN-Normen (u.a. Anzahl an Toilettenpapier je Wischvorgang), Zwang zur genderinklusiven Ansprache der zu pflegenden Person durch den Roboter, nun auch die Besteuerung der Roboterarbeit festgelegt werden.

Die GRÜNEN stellen ein Verbot von Pflegerobotern zur Diskussion, da nach eigenen Recherchen die CO²-Bilanz der Roboter schlechter sei als die von pflegenden Menschen. Die Robotiklobby lässt ein Gegengutachten anfertigen, in welches neueste Erkenntnisse flatulenzbedingter Kohlendioxidentstehungsprozesse im menschlichen Darm einfließen.

Die Interessengemeinschaft „Kein Roboter ist illegal e.V.“ protestiert vor dem Bundestag und fordert vehement die Gleichstellung von Roboter und Mensch sowie das Recht auf Heirat zwischen Pflegeperson und Roboter.

2032: Ein Bundesroboterzentralregister wird eingeführt. Die Überwachung aller Inhalte aus dem Gute-Pflegeroboter-Weiterentwicklungsgesetz werden darin in einer Cloud gesteuert und überwacht. Zusätzlich werden Berechnungsdaten für zu zahlende Steuern für Roboterarbeit direkt an die Finanzämter übermittelt.

2036: Deutschland verzeichnet rund 7 Millionen Pflegebedürftige. Das System droht vollends zu kollabieren. Der Ethikrat wird damit beauftragt, eine Stellungnahme zu Möglichkeiten der aktiven Sterbehilfe in einem obligatorisch Beratungsgespräch bei bestimmten vorliegenden Diagnosen und bei Überschreiten eines bestimmten Alters zu erarbeiten.

Im Ergebnis steht eine Empfehlung für entsprechendes politisches und gesetzgeberisches Handeln („Generationenvertrag 2.0“). Der Ethikrat merkt an, dass Artikel 1 des Grundgesetzes einer Reform bedarf. „Die Würde des Menschen bis Alter X ist unantastbar.“ wird dabei als Vorschlag eingebracht. Ausgewählte Gäste in politischen Talkshows werben für dieses Vorhaben.

2038: Das Schulfach Ethik wird ergänzt um ein obligatorisch zu belegendes Seminar „Was ist lebenswertes Leben?“. Die katholische Kirche macht in Werbespots mobil dagegen. Die Kampagne „Gott entscheidet, wann Zeit ist“ ist die größte und teuerste in der Werbeindustrie und wird aus den bescheidenen Rücklagen der Kirche finanziert.

2041: Über 15 Millionen Bürger erhalten aufgrund des Wegfalls ihrer Arbeitsplätze, die überwiegend durch Roboter übernommen wurden, nur noch das „Respekt-Grundeinkommen“. Dies hatte der ehemalige Bundeskanzler Scholz in seiner Amtszeit initiiert. Aufgrund von neuen flexiblen Hinzuverdienstregelungen und gesenkten Hürden zur Aufnahme von Tätigkeiten in der Pflege erlebt die Branche einen nie gesehenen Personalzulauf.

2042: Aufgrund gestiegener Regulatorik und somit steigender Kosten sowie hoher Steuerabgaben auf Roboterarbeit werden Pflegeroboter zunehmend unbeliebter. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass Pflege im besten Fall von Mensch zu Mensch erfolgen sollte.

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Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. So oder so wird die Bedeutung der Pflege einschließlich der organisatorischen und finanziellen Vorsorge zunehmen.

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