Rente: Studie will unangenehme Wahrheiten zur Altersvorsorge aufdecken
Das Institut für Finanz- und Aktuarwissenschaften (ifa), ein Ulmer Beratungshaus, hat Thesen zur Zukunft der Altersvorsorge in einem Aufsatz zusammengefasst. Der Anspruch: Weichen aufzuzeigen, mit denen die Rente reformiert werden kann. Die Autoren plädieren für den Aufbau eines Kapitalstocks, den Erhalt etablierter Systeme (Riester und bAV) - sowie für ein höheres Renteneintrittsalter.
- Rente: Studie will unangenehme Wahrheiten zur Altersvorsorge aufdecken
- Der Staat als "Spieler" und "Schiedsrichter"
Die Altersvorsorgesysteme und speziell die gesetzliche Rente müssen reformiert werden - dies ist auch der Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen bewusst, die entsprechende Vorhaben in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Das veranlasst das Institut für Finanz- und Aktuarwissenschaften (ifa), sich in einem 59seitigen Aufsatz mit Thesen zur Zukunft der Altersvorsorge zu Wort zu melden: und Reformvorschläge zu unterbreiten. Auftraggeber ist Union Investment: einer der größten Riester-Fondsanbieter.
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Die Pläne der Studie sind ehrgeizig. Man wolle nicht nur "allgemeinverständlich die zukünftigen Herausforderungen des Altersvorsorgesystems in Deutschland sowie die Wirkungsweise möglicher Reformansätze" erläutern, schreiben die drei Autoren. Sondern auch "Thesen zur Zukunft der Altersvorsorge in Deutschland und zu Anforderungen an Reformen" ableiten, die sich "aus fachlicher Sicht nahezu zwingend ergeben, wenn man die Faktenlage rational betrachtet". Verfasser des Papiers sind Jochen Ruß, Alexander Kling und Andreas Seyboth. Die Studie kann kostenfrei auf der Webseite des Beratungshauses heruntergeladen werden.
Das kritische Jahr 2030
Ausgangspunkt der Studie ist, dass das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung spätestens bis Ende der 2030er Jahre unter Druck gerät und sich das zahlenmäßige Verhältnis von Menschen im Rentenalter zu Menschen im Erwerbsalter stark verschiebt. Die sogenannte doppelte Haltelinie, an der auch die aktuelle Ampel-Koalition festhalten will, ist dann nicht mehr haltbar. Demnach soll das Sicherungsniveau der Rente bis 2026 nicht unter 48 Prozent fallen und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent des Bruttoeinkommens steigen.
Aus Sicht der Autoren ist das schlicht unrealistisch. Die doppelte Haltelinie sei weder zielführend noch generationengerecht. Das verdeutlichen sie anhand mehrerer Modellrechnungen. Unter anderem hatte die damalige Bundesregierung 2020 eine Projektionsrechnung für die gesetzliche Rentenversicherung vorgelegt. Die zentralen Ergebnisse: bis zum Jahr 2045 wird das Sicherungsniveau der Rente um fünf Prozentpunkte auf 43,2 Prozent fallen, während der Beitragssatz um vier Prozentpunkte auf 22,9 Prozent steige. Zusätzlich müssten die zugeschossenen Bundesmittel zur Rentenkasse um über 140 Prozent anwachsen: auf dann 213,2 Milliarden Euro jährlich. Schon 2026 soll laut dieser Prognose das Rentenniveau auf unter 48 Prozent fallen.
Will man an der doppelten Haltelinie weiter festhalten und den Beitragssatz zur Rente unter 20 Prozent halten, müssten noch weit größere Summen direkt aus Steuermitteln fließen, argumentieren die Autoren weiter. Geld, das dann zum Beispiel für Investitionen fehlt. Deshalb sei rasches Handeln geboten, um gegenzusteuern: schon in dieser Legislaturperiode.
Kapitalstock kommt in Deutschland zu spät
An welchen Stellschrauben aber kann eine Rentenreform ansetzen? Grundsätzlich sprechen sich die Studienmacher für ein Zusammenspiel von Umlageverfahren und Kapitaldeckung aus. Beide seien anfällig für unterschiedliche Risiken: „Daher gilt es, Risiken zu streuen, indem man beide Systeme parallel nutzt und sinnvoll aufeinander abstimmt“, schreiben sie. Mehr Kapitaldeckung sei grundsätzlich erstrebenswert. Sie begrüßen, dass im Koalitionsvertrag angedacht ist, einen aktienbasierten Kapitalstock von zunächst zehn Milliarden Euro aufzubauen - wobei dieses Vorhaben in Christian Lindners (FDP) aktuellen Entwurf des Bundeshaushaltes keine Rolle mehr spielt.
Der angedachte Kapitalstock stelle „einen sinnvollen ersten Schritt dar, dem aber weitere folgen müssen“. Auch brauche die Kapitaldeckung Zeit, um zu wirken. „Die Länder, die in der aktuellen Diskussion als Vorbild genannt werden, profitieren heute davon, dass sie rechtzeitig auf die Warnungen von Wissenschaftlern reagiert haben und den Einstieg in die Kapitaldeckung bereits vor langer Zeit vorgenommen haben“. Gemeint sind Staaten wie Schweden und Norwegen, die bereits seit vielen Jahren ihr Rentensystem mit Kapitaldeckung stützen: Schweden beispielsweise seit 2000. „Entsprechend werden auch bei uns erst spätere Generationen von einem heutigen Einstieg profitieren. Die Herausforderungen der 2030er Jahre können hiermit nicht gelöst werden“.
Im Schnitt 408 Euro Riester-Rente im Monat?
Zugleich verweisen die Autoren darauf, dass es bereits einen privaten Kapitalstock -ergänzend zum gesetzlichen Rentensystem- gibt. „Weil Kapitaldeckung Zeit benötigt, ist ein kapitalgedecktes System wie beispielsweise die Riesterrente, in welchem bereits über Jahre Kapital angespart wurde, ein wertvolles Gut. Dieses Argument wird in der Diskussion bisher nicht ausreichend beachtet“, heißt es. Die staatliche Förderung der Riester-Rente sei zudem geeignet, „die Schere zwischen arm und reich zu verringern“. Eine Stärkung der Riesterrente sei daher dringend geboten.
Die Autoren verweisen auf eine Studie von Union Investment („Vorsorgeatlas 2021“), wonach die rund 16 Millionen Besitzer eines Riester-Vertrages im Schnitt 13,9 Prozent des letzten Bruttoeinkommens ersetzen könnten. Allerdings nehmen die dortigen Autoren an, dass jeder Riester-Sparer Rentenansprüche von durchschnittlich 408 Euro im Monat erwirbt: eine recht hohe Summe.
Union Investment selbst sorgte für Aufsehen, weil Sparende bei in Auszahlung befindlichen Riester-Renten nur durchschnittlich 55 Euro Rente im Monat erhalten, wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete. Allerdings nach einer kurzen Ansparzeit, da es Riester-Verträge erst seit 2001 gibt, und inklusive ruhend gestellter Verträge, die lange nicht mit Beiträgen bedient wurden. Der „Vorsorgeatlas“ argumentiert folglich stark aus Sicht der Privatversicherer: Union Investment ist einer der größten Anbieter von Riester-Fondssparplänen.
Das ifa geht nun in der eigenen Studie kaum auf die Kritikpunkte an Riester ein, sofern diese die Anbieter selbst betreffen: vergleichsweise hohe Kosten, die im Gegensatz zur milliardenschweren Förderung stehen, teils intransparente Verträge, das Rechnen mit einer überzogenen Lebenserwartung für die Rente von bis zu 142 Jahren etc. Soeben hat die Finanzaufsichts-Behörde BaFin die Lebensversicherer wegen teils hoher Kosten speziell bei Rentenversicherungen gerügt. Stattdessen schreibt das ifa: „Die aktuelle Diskussion um die Riesterrente führte allerdings bei vielen Menschen zu einem Verlust des Vertrauens in diese Form der Altersvorsorge, welches dringend wiederhergestellt werden muss.“ Man sieht den Vertrauensverlust eher verursacht durch Politik und Medien.
Das ifa diskutiert mehrere Reformschritte für Riester: u. a. die Einführung eines Standard-Produktes, die Abschaffung der 100prozentigen Beitragsgarantie, damit die Anbieter das Kapital risikofreudiger anlegen können, eine Dynamisierung der Förderung, sodass der förderfähige Betrag mit der Zeit steigt.
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Ein weiterer wichtiger Baustein der Kapitaldeckung: die betriebliche Altersvorsorge. Die Leistungen der Privatwirtschaft lagen hier im Jahr 2020 bei circa 27 Milliarden Euro und damit bei fast 8,8 Prozent der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung (309 Mrd.), rechnet das ifa vor. Mehr als jeder zweite sozialversicherungspflichtig Beschäftigte verfüge über eine entsprechende Anwartschaft. Ein wesentlicher Teil der Deckungsmittel von aktuell 650 Milliarden Euro seien kapitalgedeckt. „Die Bedeutung der bAV für das deutsche Altersvorsorgesystem ist damit so groß, dass sie bei allen Überlegungen zwingend eine zentrale Rolle spielen muss“, heißt es im Aufsatz. Auch hier sehen die Studienmacher Reformbedarf, wenn auch weit geringer als bei Riester: unter anderem die Möglichkeit, dass Kapital in Geldanlagen mit höheren Renditen fließt. Das erfordert Lockerungen ebenfalls bei den Garantien.
Der Staat als "Spieler" und "Schiedsrichter"
Darüber hinaus kann auch der Staat eine kapitalgedeckte Altersvorsorge organisieren: oft umgangssprachlich, trotz verschieden ausgeprägter Modelle, als „Staatsfonds“ bezeichnet. „Wenn der Staat selbst als „Spieler“ auftritt, so geht dies mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen einher. Da manche dieser Risiken und Nebenwirkungen außerhalb der ersten Säule besonders stark ausgeprägt sind, tritt der Staat in den oft zitierten Beispielen aus anderen Ländern lediglich in der ersten Säule als Spieler auf“, schreiben die ifa-Autoren.
Stark vereinfacht kann der Staat in zweierlei Art als „Spieler“ auf dem Markt eingreifen: indem er in der ersten Säule selbst einen Kapitalstock aufbaut, um das gesetzliche Rentensystem in Zukunft zu stützen. Oder ein investmentfondsartiges Produkt anbieten, an dem die Bürgerinnen und Bürger Anteile erwerben können, die wiederum ihrem individuellen Rentenkonto zugeordnet sind. Letzteres Modell kann privatwirtschaftliche Produkte, die auch im Wettbewerb zum staatlichen Angebot stehen, zulassen und ausschließen. Als Beispiele werden oft der norwegische Staatsfonds, die Schwedische Prämienrente und der Canada Pension Plan herangezogen - trotz unterschiedlicher Ausprägungen.
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Darüber hinaus kann der Staat auch als „Schiedsrichter“ agieren - er beschränkt sich darauf, dass von der Privatwirtschaft sinnvolle Altersvorsorgeprodukte angeboten werden, die bestimmte Kriterien erfüllen müssen und durch Steuern und Zulagen gefördert werden. Ähnliches passiert zum Beispiel bereits mit Blick auf die Riester-Rente, wo eine 100-Prozent-Beitragsgarantie festgelegt ist.
Risiken: der Staat als "Spieler" bzw. Marktakteur
Tritt der Staat als „Spieler“ auf, dann sei dies bei den internationalen Beispielen oft auf die erste Säule der Altersvorsorge beschränkt: stark vereinfacht die gesetzliche Rentenversicherung. Die Fifa-Autoren machen deutlich, dass dies nicht ihr bevorzugtes Modell ist. Die genannten Risiken: Zum einen sei denkbar, dass der Staat den Fonds missbrauche und in Zeiten knapper Kassen drauf zugreife. Das sei etwa bereits in Irland passiert, wo die Regierung in der Finanzkrise 2008 rund 20 Milliarden Euro zur Rettung notleidender Banken entnommen habe. Einen vollständigen Schutz vor zukünftigen Zugriffen könne es nicht geben.
Zum anderen sehen die Autoren die Gefahr, dass der Staat bewusst Fehlanreize setzt, um als Investor am Kapitalmarkt zu profitieren. Zum Beispiel, indem Gesetze Unternehmen bevorzugen, in die er investiert hat. Oder auch, dass das Investment nach politischem Kalkül erfolgt: etwa investiere der spanische Staatsfonds hohe Anteile in spanische Staatsanleihen - mit fehlender Risikostreuung. Auf oft diskutierte Vorteile solcher Fonds: extrem niedrige Verwaltungskosten, der Wegfall von Abschlussprovision sowie die Möglichkeit, bewusst ökologische, soziale und nachhaltige Investments zu unterstützen, geht die ifa-Studie nicht ein.
Im Gegensatz zu vergangenen Rentenreformen spielt die Auszahlphase in der aktuellen Diskussion kaum eine Rolle, bemängeln die Autoren. Das gelte vor allem mit Blick auf neu einzuführende, staatlich organisierte und kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme. „Auch in Zukunft muss aber durch geeignete Anreize sichergestellt werden, dass zumindest diejenigen Bürger, deren gesetzlicher Rentenanspruch absehbar unter einem gewissen Mindestniveau liegt, ihre lebenslangen Ausgaben durch ein lebenslanges Einkommen absichern“: folglich einer lebenslangen Rente. Dies sei in existierenden Systemen (Riesterrente, bAV) bereits umgesetzt. Sonst bestehe ein finanzielles Risiko darin, länger zu leben als das Geld reicht.
Leitplanken: höheres Renteneintrittsalter, Kapitalstock, Erhalt bestehender Systeme
Was die ifa-Autoren letztendlich vorschlagen, um die Rente zu reformieren, wäre für viele schmerzhaft: aber sie bieten wenig neue Rezepte. Sie schreiben als Plädoyer: "Insgesamt sollte man bei der Reform der Altersvorsorge in Deutschland folgende Leitplanken unbedingt im Blick haben: Die Einrichtung eines Kapitalstocks zur langfristigen Stabilisierung der gesetzlichen Rente ist sinnvoll. Fragen, wie die teilweise Kapitaldeckung konkret ausgestaltet werden sollte, welche Volumina im weiteren Zeitverlauf aufgebaut werden und wie man deren Finanzierung plant, müssten zeitnah beantwortet werden. Und man muss sich bewusst sein, dass man die Herausforderungen der 2030er Jahre hierdurch nicht bewältigen kann".
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Weiter argumentieren sie: "Um die Herausforderungen der 2030er Jahre ohne eine Überforderung der öffentlichen Finanzen zu bewältigen, ist eine Abkehr von der doppelten Haltelinie sowie eine weitere Erhöhung der Regelaltersgrenze (idealerweise automatisiert gekoppelt an die Entwicklung der Lebenserwartung) erforderlich. Da dies bereits heute offenkundig ist, sollte es den Bürgern auch transparent kommuniziert werden. Außerhalb der gesetzlichen Rente müssen vorrangig existierende kapitalgedeckte Systeme gestärkt werden statt neue, staatlich organisierte einzuführen".
- Rente: Studie will unangenehme Wahrheiten zur Altersvorsorge aufdecken
- Der Staat als "Spieler" und "Schiedsrichter"