Wie prekär ist die aktuelle Situation der gesetzlichen Krankenkassen? Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) klafft schon 2023 eine Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro im Kassensystem, der Zusatzbeitrag soll um 0,3 Prozentpunkte steigen. Doch aufhorchen lässt nun ein Interview mit AOK-Chefin Carola Reimann im „Handelsblatt“. Demnach könnte den Kassen eine noch weit größere Krise drohen - bis dahin, dass ein großer Anbieter gar in die Insolvenz rutsche.

Anzeige

Reformpläne „weder nachhaltig noch gerecht“

Nach Ansicht von Reimann, selbst SPD-Mitglied, seien die drohenden Teuerungen im Gesundheitssystem bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern noch gar nicht angekommen. Doch das werde sich ändern, wenn der Zusatzbeitrag tatsächlich zum Jahreswechsel 2022/23 um drei Prozentpunkte angehoben werde. Dann habe jeder Versicherte zum Monatsende weniger Netto vom Brutto. „In Zeiten von rasant steigenden Energiepreisen und hoher Inflation sind das keine guten Nachrichten“, sagt die Diplom-Biotechnologin.

Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK BundesverbandesAOK Bundesverband

Die Ursache für das drohende Finanzdefizit sieht sie in teuren Gesundheitsreformen der Vorgänger-Regierung, die nach ihrer Ansicht viel Geld kosten, aber für die Versicherten keinen spürbaren Nutzen haben. Nachhaltige Finanz- und Strukturreformen jedoch seien jahrelang verschlafen wurden. Hier würden auch die geplanten Reformen des Bundesgesundheitsministers kaum Nutzen bringen. „Was Minister Lauterbach vorgestellt hat, ist weder nachhaltig noch gerecht. Stattdessen betreibt er hektische Flickschusterei, die keine Planungssicherheit über 2023 hinaus bietet“, sagt sie.

12 Milliarden Euro des Finanzlochs würden allein durch die gesetzlich Versicherten durch höhere Zusatzbeiträge ausgeglichen, kritisiert Reimann. Sie tragen also die Hauptlast der Reformen. Darüber hinaus sehen Lauterbachs Pläne vor, die Kassenreserve abzuschmelzen, die ebenfalls aus Beiträgen der Versicherten gebildet wird - hier sollen 2,4 Milliarden Euro entnommen werden. Zusätzlich gewährt der Bund ein Darlehen von einer Milliarde Euro, das später zurückgezahlt werden soll. „Das ist völlig unverhältnismäßig, und ich halte das für einen echten Sündenfall“, so Reimann.

Spätestens ab 2023 werde sich das Finanzierungsproblem der Krankenkassen verschärfen, da dann die Reserven aufgebraucht seien und das Darlehen zurückgezahlt werden müsse, kritisiert die Funktionärin. Aber die strukturelle Lücke klaffe weiter, die Ausgaben überstiegen die Einnahmen um mindestens ein Prozent. Wenn dann durch die hohen Energiepreise und die Inflation noch die Konjunktur schwächele, vergrößere sich das Defizit noch mehr - und die Beiträge müssten noch stärker steigen als ohnehin geplant.

Reimanns Fazit: “Wir haben eine fragile Situation. Der Minister muss verstehen, dass die Kassen leer sind“. Es fehle Geld für Extraausgaben, etwa für die Krankenhäuser und zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Auch für viele gut gemeinte Absichten im Koalitionsvertrag sei kein Geld da: etwa, dass mehr Pflegepersonal eingestellt werde und die Kinder- und Jugendmedizin sowie Geburtshilfe aus dem Fallpauschalen-System herausgelöst werde. Ein weiteres Projekt sind Gesundheitskioske: stark vereinfacht niedrigschwellige Anlaufstellen für sozial benachteiligte Personen, bei denen über Prävention und Gesundheitsthemen aufgeklärt wird. All diese Projekte seien noch nicht finanziert, hier fehlen zusätzlich 10 Milliarden Euro, so die AOK-Chefin.

Reserven abgeschöpft - droht Insolvenz einer großen Krankenkasse?

Das Defizit der Krankenkassen könnte sogar weiter massiv steigen, wenn -ähnlich wie Anfang der 2000er Jahre- die Konjunktur schwächele, warnt Reimann weiter. Damals mussten Leistungen im Kassenkatalog gekürzt werden. Im Zuge des GKV-Modernisierungsgesetzes 2004 wurde unter anderem durchgesetzt, dass Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen und Brillen von Patientinnen und Patienten selbst bezahlt werden müssen. Droht sich ein solches Szenario zu wiederholen? Indirekt spricht Reimann nun die Möglichkeit an, dass auch eine große Kasse in die Insolvenz rutschen könnte, da die Kassenreserven aufgebraucht seien.

Anzeige

Leistungskürzungen halte sie für unverantwortlich, da sie die Schwächsten in der Gesellschaft treffen, sagt Reimann. Stattdessen müssten Effizienzreserven im Gesundheitssystem gehoben werden. "Der größte Ausgabenblock sind die Krankenhäuser. Und eine Nullrunde für alle Leistungserbringer und die Senkung der Steuerabgaben auf Arzneimittel würden zehn Milliarden Euro einsparen", so die AOK-Chefin. Sie fordert umfassendere Reformen im Kassensystem - mit einer "klaren Perspektive für die kommenden Jahre". Ein weiterer Schritt: Der Bund müsse sich angemessen an den Kosten für HartzIV-Empfänger beteiligen.