Lebensversicherung: Höhere Zinsen könnten Markt weiter spalten
Herbert Schneidemann, Chef der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), rechnet damit, dass die Schere zwischen finanzstarken und schwachen Lebensversicherern künftig weiter aufgehen könnte. Denn viele Versicherer haben noch hochverzinste Altlasten im Bestand, und der Marktwert langfristiger Anleihen sinke zunächst in Zeiten steigender Zinsen. Stille Lasten könnten zur Notwendigkeit von Abschreibungen führen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Leitzins erstmals seit 2011 wieder angehoben: um 0,5 Prozentpunkte und damit stärker als erwartet. Marktexperten gehen davon aus, dass dies auch das Ende der Nullzinspolitik von Europas Notenbank sein könnte. Doch was bedeuten steigende Zinsen für die deutschen Lebensversicherer? Sind sie eigentlich gut für die Branche oder eher schlecht? Zu diesen Fragen hat sich gegenüber dem „Handelsblatt“ Herbert Schneidemann geäußert, Chef der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV).
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„Höhere Zinsen sind eine gute Botschaft für die Lebensversicherung, vor allem für die Wiederanlage“, betont Schneidemann in dem Interview. Denn wenn Versicherer nun neue Anleihen kaufen, dann holen sie damit höhere Renditen ins Depot.
Lebensversicherer halten viele Anleihen aus Niedrigzins-Zeiten
Doch die Sache hat einen Haken. Viele Versicherer sind in lang laufende Anleihen investiert, um Garantien abzusichern: Das schreibt ihnen der Gesetzgeber so vor, da diese Anlagen als vermeintlich sicher gelten. Die gehaltenen Anleihen können nicht so einfach abgestoßen werden. In der Niedrigzinsphase gezeichnet, verlieren diese zunächst an Wert, da ja Anleihen aktuell wieder mit höheren Zinsen abgeschlossen werden können. Deshalb geraten die im Depot gehaltenen Anlagen zunächst unter Druck, wie Schneidemann ausführt.
Wenn der aktuelle Marktwert der Kapitalanlagen aber niedriger ausfällt als die Buchwerte in der Bilanz, entstehen bei den Versicherern sogenannte stille Lasten. Diese wurden vom Ratinghaus Assekurata bereits im Juni auf 40 Milliarden Euro geschätzt. Dies ist dann kein Problem, wenn sie bis zum Ende der Laufzeit gehalten werden, da sie einen fest vereinbarten Wert zum Laufzeitende haben. „Bei manchen Anlagen, etwa 100-jährigen Staatsanleihen, dürfte es den Versicherern aber schwerfallen, den Wirtschaftsprüfer zu überzeugen, dass diese tatsächlich bis zum Laufzeitende in den Büchern bleiben werden“, so Schneidemann. Mit anderen Worten: Es drohen Abschreibungen, da sie eventuell unter Wert verkauft werden müssen.
Entlastungen bei der Zinszusatzreserve
Entlastet werden die Versicherer durch höhere Zinsen aber beim Aufbau der Zinszusatzreserve (ZZR). Das ist eine Art Kapitalpuffer, den die Versicherer seit 2011 aufbauen müssen: auch als Reaktion auf die dauerhaft niedrigen Zinsen am Kapitalmarkt. So war es den Versicherern kaum noch möglich, allein mit ihrem Zinsertrag auf die eingesammelten Beiträge die Garantiezusagen für die Zukunft zu erwirtschaften. Allein 2021 mussten die deutschen Lebensversicherer zehn Milliarden Euro in diesen Finanztopf geben. Zum Ende des Vorjahres summierte sich der ZZR-Bestand auf 97 Milliarden Euro. Als Sicherheit gedacht, wurde diese Reserve für manche Versicherer selbst zum Problem, da sie viel Kapital band.
Diese Zinszusatzreserve könnte nach Ansicht von Schneidemann dazu beitragen, dass sich das Feld der Lebensversicherer weiter spaltet: in finanzstarke und schwächere Anbieter. Das liegt daran, dass manche Branchenvertreter noch viele hochverzinste Altverträge im Bestand haben, die entsprechend abgesichert werden müssen. Im Jahr 2000 sicherten die Anbieter ihren Kundinnen und Kunden beispielsweise bei klassischen Policen noch einen Garantiezins von 3,25 Prozent zu. Viele Verträge laufen über 30 Jahre oder gar mehr: und sind noch im Portfolio.
Bereits in der Vergangenheit waren diese Lebensversicherer gezwungen, stille Reserven aufzulösen. Stark vereinfacht: Sie haben hochverzinste Anleihen und andere Anlagen unter Wert verkauft und ihr Tafelsilber verscherbelt. Teils mussten sie dann in neue Anleihen investieren, die weniger gut verzinst waren - oder gar keinen Zinsertrag boten. „Wenn diese Versicherer schon in den vergangenen Jahren Bewertungsreserven aufgelöst haben, um die Zinszusatzreserve zu finanzieren, müssen sie jetzt schauen, wo das Geld herkommt“, sagt Schneidemann.
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In diesem Jahr aber sei die Zinszusatzreserve wahrscheinlich ausfinanziert, vermutet der Versicherungsmathematiker. Und auch die Solvenz der Versicherer profitiere, wenn die Zinsen am Markt wieder zulegen. Durch die gestiegenen Zinsen hätten sich auch die Solvenzquoten der Lebensversicherer, die das Verhältnis von vorhandenen zu geforderten Eigenmitteln angeben, deutlich erhöht. Wahrscheinlich könnten die deutschen Lebensversicherer alle Anbieter die Anforderungen der Finanzaufsicht -eine Solvenz von mindestens 100 Prozent- auch ohne Übergangshilfen erfüllen, vermutet der Aktuar.