Ständige Rückkehr zum Mittel: Wie viele Unternehmen sind wirklich „Growth“?
Wachstumstitel waren über lange Jahre hinweg vielfach attraktive Performanceattributoren. Nun sind die Wachstumsaussichten von Growth-Titeln deutlich zurückgegangen. Das ist aber kein Zufall, weiß Dyrk Vieten, CEO der Value-Boutique Lingohr & Partner Asset Management aus Erkrath. Denn Extremwerte treten fast ausschließlich über kürzere Zeiträume auf und sich die Verteilung bei längerem Betrachtungszeiträumen zur Mitte hin konzentriert. Das spricht für Value als substanzstarke Anlagestrategie.
In den vergangenen Jahren stand das Growth Investing im Fokus vieler privater und professioneller Investoren. Die Wachstumsgeschichten vor allem von US-Technologieunternehmen haben die Attraktivität des Investmentstils gefördert. Die Beispiele dafür sind umfangreich. Ob Apple oder Microsoft, ob Netflix oder Tesla, ob Amazon oder Nvidia: Viele Technologieunternehmen vor allem US-amerikanischer Herkunft haben in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Wachstumsgeschichte hingelegt. Tesla beispielsweise hat in drei Jahren fast 1900 Prozent zugelegt, Apple immer noch mehr als 250 Prozent. Das bedeutet: Growth-Aktien, also Wertpapiere von Unternehmen, deren Wachstumsrate deutlich über dem Durchschnitt im Branchenvergleich liegt, waren in den vergangenen Jahren der Heilsbringer für viele Portfolien.
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Märkte neigen zu Übertreibungen
Nun ist es in den vergangenen neun bis zwölf Monaten zu erheblichen Bewertungsrückgängen bei Growth-Werten gekommen. Das hat natürlich mit den allgemeinen Marktveränderungen zu tun (Krieg, Krise, Zinsen, Inflation), aber eben nicht nur. Ein Kernbegriff ist die Mean Reversion, also die Annahme, dass Märkte zu Übertreibungen neigen, die sich im Zeitablauf nicht nur zufällig korrigieren, sondern ein „Gedächtnis“ haben und vorherige Trends umkehren. Studien zeigen, dass die Mean Reversion in den Wachstumsraten zudem besonders hoch ist, desto extremer das Umsatzwachstum ist. Margen unterliegen dabei, genauso wie Wachstumsraten, langfristig dem Prinzip der Mean Reversion.
Das bedeutet, dass Wachstums- und Bewertungsausreißer in der Regel nicht nachhaltig sind, sondern das generell eine ständige Rückkehr zum Mittel zu beobachten ist. Je weiter einzelne Beobachtungen vom Durchschnitt entfernt waren, desto kürzer war deren Bestehensdauer beziehungsweise desto schneller und härter deren Abfall. Das bestätigt die Einschätzung, dass zeitliche Entwicklungen in Zyklen verlaufen. Wachstumserwartungen basierend auf dem Fortbestehen bisherig überhöhter Wachstumsraten haben folglich eine entsprechend geringe Eintrittswahrscheinlichkeit.
Extremwerte treten fast ausschließlich über kürzere Zeiträume auf
Lingohr & Partner Asset Management hat die Verteilung der durchschnittlichen Wachstumsraten von 1989 bis heute für Industrienationen untersucht. Lediglich drei Prozent der untersuchten Unternehmen wachsen über 15 Jahre hinweg durchschnittlich mehr als 20 Prozent, und nur ein Prozent wächst unter minus zehn Prozent über 15 Jahre hinweg. Somit ist die langfristige Rückkehr zum Mittel: Der eindeutige Großteil liegt bei null bis zehn Prozent über 15 Jahre, was die langfristige Rückkehr zum Mittel belegt. Es wird aus den Untersuchungen zudem ersichtlich, dass Extremwerte fast ausschließlich über kürzere Zeiträume auftreten und sich bei längerem Betrachtungszeitraum die Verteilung zur Mitte hin konzentriert.
In den vergangenen 15 Jahren lässt sich darüber hinaus eine Verschärfung der oben genannten Zahlen nachweisen. Nur noch zwei Prozent wuchsen in diesem Zeitraum durchschnittlich mehr als 20 Prozent. Der langfristige Schwerpunkt lag nicht mehr bei null bis zehn Prozent, sondern konzentrierter und niedriger bei null bis fünf Prozent. Es gibt in dem Zeitraum seltener ein stark überhöhtes Wachstum, und das durchschnittliche Umsatzwachstum über 15 Jahre seit 2005 ist geringer als im gesamten Betrachtungszeitraum.
Kurzfristige Gewinne sind werthaltiger als langfristige
Damit existieren gar nicht allzu viele echte Growth-Unternehmen. Das ist ein weiterer Beleg für den Wert von Value Investing. Diese langfristige Ausrichtung verhindert den Fehler in ein Segment zu investieren, das bereits seinem inneren Wert enteilt ist. Denn dann ist die Gefahr groß, dass zufällige Ereignisse oder bereits geringfügige Verschlechterungen in der Geschäftsentwicklung deutliche Preisreduktionen verursachen können. Es reicht also nicht aus, die Zukunft aus der Preisentwicklung in der Vergangenheit abzuleiten, sondern es ist notwendig, immer auch den inneren Wert einer Unternehmung im Blick zu behalten. Und dieser ist von der Stabilität der Gewinne abhängig, nicht von historisch vermutlich einmaligen Ausschlägen nach oben.
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Value-Investoren suchen also aktiv nach Aktien, von denen sie auf Basis professioneller Finanzanalysen meinen, dass der Aktienmarkt sie unterbewertet. Sie folgen nicht dem Herdentrieb an den Kapitalmärkten und wollen auf diese Weise langfristig in Qualitätsunternehmen investieren. Es braucht also ein Bewusstsein für die häufige, Euphorie-getriebene Entkopplung von Markteinschätzung und Realität, um potenziellen „Growth-Fallen“ zu entgehen. Empirisch zahlt es sich also aus, günstige, moderat und nachhaltig wachsende Unternehmen zu kaufen. Das Umfeld steigender Zinsen macht Value-Werte attraktiver, weil deren Gewinne nah in der Zukunft liegen, während zukünftige Geldflüsse (Cashflows) auf den aktuellen Zeitpunkt zum entsprechenden Zinssatz abdiskontiert werden. Damit sind kurzfristige Gewinne werthaltiger als langfristige. Dafür ist es von höchster Bedeutung, sich mit seinen Investments nicht wohlfühlen zu wollen, sondern die innere Stärke zu haben, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.