Es ist ein Urteil, das den Alltag von Millionen Deutschen verändern wird: Alle Arbeitgeber müssen künftig die Arbeitszeit ihrer Angestellten erfassen – das hat das Bundesarbeitsgericht bereits im September entschieden und nun die Eckdaten vorgelegt. Demnach gilt die Regelung ab sofort, eine Übergangsfrist ist nicht vorgesehen. Die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems reicht allerdings nicht aus. Wie genau die Stunden erfasst werden müssen, ob etwa per Stechuhr oder mithilfe eines Computersystems, hat das Gericht dagegen nicht definiert. Was die neue Regelung für Vertrauensarbeitszeit bedeutet, ist offen – flexible Arbeitsmodelle sehen für mich jedenfalls anders aus. Nun liegt der Ball beim Arbeitsministerium, das zügig eine gesetzliche Regelung auf den Weg bringen muss.

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Kai Grunwitz, Geschäftsführer der NTT Ltd. in DeutschlandNTT Ltd.Fakt ist, der Schutz vor Fremd- und Selbstausbeutung ist wichtig und daher auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts absolut nachvollziehbar. Trotzdem ist für mich eine Zeiterfassung in dieser Form ein Bürokratie-Monster aus der Steinzeit der Arbeitswelt – zumindest was unsere Branche betrifft. Erstens geht mit der Arbeitszeiterfassung zwangsläufig auch immer mehr Kontrolle über die Leistung jedes Einzelnen einher. Eine digitale Stechuhr ist also ein Instrument des Misstrauens. Zweitens wird wohl niemand glauben, dass sich die schwarzen Schafe davon abschrecken lassen. Wer bislang gegen Vereinbarungen und Gesetze verstoßen hat, wird es auch weiterhin tun. Die neue Vorgabe nimmt jedoch alle Arbeitnehmer in Deutschland in Geiselhaft.

Dabei ist die IT-Branche das beste Beispiel dafür, wie Flexibilität und Agilität den Arbeitsalltag erleichtern können. Menschen haben eine Vielzahl an Möglichkeiten, um Berufs- und Privatleben nach den individuellen Bedürfnissen aufeinander abzustimmen. Vertrauensarbeit ist oftmals gelebte Realität. Im Fokus steht dabei nicht die Kontrolle der geleisteten Arbeitszeit, sondern das Vertrauen, dass die vereinbarten Aufgaben erledigt werden. Wann die Beschäftigten arbeiten, bleibt weitgehend ihnen überlassen. Der bis auf die Minute genau getaktete 8-Stunden-Tag gehört also in der Regel der Vergangenheit an. Wenn jetzt die Stechuhr ins Homeoffice einzieht, müssen sich die Mitarbeitenden jedoch streng genommen für private Aktivitäten – auch wenn sie nur ein paar Minuten dauern – aus dem Zeiterfassungssystem ausbuchen. Eine Frage bleibt zudem unbeantwortet: Wo verläuft die Trennline zwischen beruflichen und privaten Tätigkeiten? Oder anders formuliert: Wenn ich am Wochenende mein berufliches Online-Netzwerk pflege oder am Abend auf der Couch zu einem Thema recherchiere – ist das nun Arbeit oder Privatvergnügen?

Flexibilität jedenfalls gehört zu einer modernen Arbeitswelt dazu. Die Erwartungshaltung seitens der Angestellten ist unabhängig von der Branche gestiegen, wie die Studie „Arbeiten 2022“ der pronova BKK zeigt. Demnach wünscht sich die Mehrheit der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer flexible Arbeitsmodelle. Für knapp jeden dritten ist das Homeoffice inzwischen das „New Normal“, sie können ohne Abstimmung und Anwesenheitspflicht jederzeit vom heimischen Arbeitsplatz aus tätig sein. Gut jeder Zehnte hat dafür feste Tage. Diese neue Freiheit hat durchaus ihre Grenzen. Wer beispielsweise am Küchentisch seinen Büroarbeitsplatz aufbaut, merkt schnell, dass es schwierig ist, eine Grenze zwischen Arbeit und Privatleben zu ziehen. Viele schauen auch abends noch mal schnell in die E-Mails oder reagieren auf Anrufe. Ein Runterkommen und Abschalten wird damit schwierig. Da verwundert es nicht, dass zwei Drittel der für die pronova-BKK-Studie Befragten im reinen Homeoffice keine Dauerlösung sieht. Genauso viele sind der Meinung, dass virtuelle Meetings kein Ersatz für den regelmäßigen Austausch an der Kaffeemaschine sind und auf Dauer der Zusammenhalt innerhalb des Teams darunter leidet.

Führungskräfte müssen hier Vorbilder sein: Wer selbst am Wochenende oder nachts Mails mit Aufgaben verschickt, erzeugt Druck bei seinen Mitarbeitenden. Genauso sinnvoll sind aus meiner Sicht regelmäßige Präsenztermine – ob nun für Gespräche, Feedback zu Arbeitsergebnissen, Informationsaustausch oder Teammeetings. Ein anderes großes Thema ist das Loslassen. Vorgesetzte müssten bereit sein, den mobil Arbeitenden den Freiraum zu geben, eigenständig zu entscheiden, wie sie ein bestimmtes Ergebnis erreichen, und entsprechendes Vertrauen in die einzelnen Teammitglieder setzen.

Der Arbeitsmarkt wird sich in den nächsten Jahren gravierend verändern. In demselben Maße müssen wir kreative Lösungsansätze fernab des üblichen Handlungsrahmens entwickeln und eine neue Arbeitskultur prägen. Eine digitale Stechuhr hat hier nichts zu suchen.

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