Droht Lebensversicherern mehr Storno und ein einbrechendes Neugeschäft?
Die Lebensversicherer profitieren von steigenden Zinsen, da sie nun auch neue Anleihen wieder mit mehr Rendite zeichnen können: so bewerten BaFin und die Branche selbst die Tatsache, dass die Europäischen Zentralbank (EZB) den Leitzins mehrfach angehoben hat. Der Aktuar und Analyst Carsten Zielke blickt nun auf die Schattenseiten der Zinswende. Eine negative Realverzinsung, einbrechendes Neugeschäft und hohe Stornos könnten die Branche gefährden.
Profitieren die Deutschen Lebensversicherer von den höheren Zinsen am Kapitalmarkt? Die Branche selbst schätzt dies teilweise so ein. Noch immer müssen sie das Gros der Kundengelder mit festverzinslichen Wertpapieren absichern, in der Regel Anleihen. Diese werfen nun wieder mehr Rendite ab, so sie neu gezeichnet werden. Tatsächlich haben Branchengrößen wie die Allianz zuletzt angekündigt, ihre Überschüsse für 2023 zu erhöhen.
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Die Inflation führt zu negativen Realzinsen
Der Analyst Carsten Zielke wertet mit seinem Zielke Research Institute jährlich die Solvenzberichte der Lebensversicherer aus: also jene Berichte, in denen die Versicherer ihre Finanzkraft und -stabilität nachweisen müssen. In einem aktuellen Pressetext warnt er nun jedoch vor zu viel Euphorie. „Niedrige Zinsen waren jahrelang das Problem der Lebensversicherer. Die Solvenzquoten waren gefallen, die Zinsreserven kaum noch finanzierbar. Jetzt schaffen höhere Zinsen und Inflationsraten von teilweise über zehn Prozent andere Probleme“, schreibt er. Denn es entstehe eine negative Realverzinsung - stark vereinfacht führt die hohe Geldentwertung dazu, dass sich die Verträge aus Sicht der Kunden auch weniger lohnen. Und somit weniger attraktiv sind.
“Wer 1000 Euro bei vier Prozent Zinsen und zehn Prozent Inflation einzahlt, hat am Jahresschluss effektiv 945 Euro Kaufkraft. Auf einmal ist es für die Lebensversicherer schwierig, gegenüber dem Kunden Argumente für die Fortsetzung bestehender oder den Abschluss neuer Vorsorgepolicen zu finden“, schreibt Zielke. Weil die Lebensversicherer weiterhin einen Großteil der Einlagen in festverzinsliche und lang laufende Papiere stecken, könnten sie ihren Kunden auch keine vergleichbare Rendite wie etwa Banken bieten.
Daraus erwachse einerseits die Gefahr, dass Bestandskunden ihren Leben-Vertrag auflösen, um zum Beispiel die Energierechnung bezahlen zu können und finanzielle Engpässe zu überbrücken. Und andererseits eben, dass das Neugeschäft der Anbieter leidet. Beides könne zu neuen Problemen der Branche werden. Allerdings sind auch in Corona-Zeiten die Stornoquoten der Anbieter nur leicht gestiegen - obwohl da schon befürchtet wurde, dass sich viele Menschen in Geldnöten von ihren Verträgen trennen.
Anfang Oktober hatte bereits die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) vor einem ähnlichen Szenario gewarnt. Verbraucher könnten vermehrt ihre Verträge stornieren, auch ein rückläufiges Neugeschäft und eine höhere Zahl an Beitragsfreistellungen würden den Anbietern drohen. „Andere Geldanlagen sind wieder attraktiver“, sagte Frank Grund, bei der BaFin für die Versicherungsaufsicht zuständig. Und weiter: „Ein gutes Liquiditäts- und Risikomanagement sind in dieser Situation besonders wichtig“.
Auch positive Effekte
Dass es auch positive Auswirkungen des steigenden Zinses an Kapitalmärkten gibt, bestreitet auch Zielke nicht. „Die gute Nachricht ist, dass die Solvenzquoten nicht mehr kritisch sind. Die Abnahme der Anzahl von kritischen Solvenzquote zeugt von einer Entspannung. Auch wichtige andere Kennzahlen, wie die erwarteten Gewinne aus zukünftigen Prämien oder der Diversifikationsgrad verbessern sich“, heißt es hierzu im Pressestatement.
Entlastet werden die Lebensversicherer auch bei der Zinszusatzreserve (ZZR). Als Reaktion auf die dauerhaft niedrigen Zinsen hatte der Gesetzgeber die Lebensversicherer verpflichtet, einen Kapitalpuffer für hochverzinste Altverträge mit Garantien zu bilden. Die Sorge war, dass die Erträge aus den Kapitalanlagen der Versicherer langfristig nicht ausreichen, um alle garantierten Renten auszahlen zu können. Ein Referenzzins regelte, wie hoch die Rücklagen auszufallen hatten: Er orientierte sich an Umlaufrenditen der öffentlichen Hand mit zehn Jahren Laufzeit.
Je länger die Niedrigzins-Phase anhielt, umso höhere Beträge mussten die Lebensversicherer ihrem Kapitalpuffer zuführen. Teilweise waren zweistellige Milliardenbeträge pro Jahr notwendig, die es für die Branche extra zurückzustellen galt. Nach Angaben des Branchenverbandes GDV summierten sich die Rücklagen zum Jahresende 2021 bereits auf 96 Milliarden Euro. Da aktuell wieder höhere Erträge auf die neu angelegten Kundengelder erzielt werden können, können die Lebensversicherer die Rücklagen wieder teils abschmelzen: Sie werden entlastet, da sie nicht mehr derart hohe Rücklagen bilden müssen. Erwartet wird, dass die Reserve in diesem Jahr um etwa drei Milliarden Euro sinkt.
Antworten auf die Storno-Gefahr
Doch was können die Lebensversicherer tun, um auf die mögliche Stornogefahr zu reagieren? Auch hierfür unterbreitet Carsten Zielke Vorschläge. „Um ihre Kunden halten zu können, sollten die Versicherer zum einen herausstellen, dass das Geld bei ihnen sicher und gegebenenfalls nach ESG-Kriterien angelegt ist. Diese gute Gefühl kann dabei helfen, die aktuell negative Realverzinsung in Kauf zu nehmen, die sich eventuell auch bald wieder korrigiert“, schreibt der Analyst. Auch sollten die Assekuranzen ihr Investmentportefolio stärker in Richtung Sachwerte wie Immobilien führen. So könnten sie gegenüber den Kunden betonen, dass sie etwas für den Inflationsausgleich tun und die Negativverzinsung in Grenzen halten.
ESG-Kriterien bedeutet, dass die Versicherer bei der Geldanlage ökologische und soziale Kriterien beachten sowie Kriterien einer guten Unternehmensführung. Wie weit die Branche hier ist, ist umstritten: Das Portfolio kann unter anderem deshalb nicht kurzfristig umgestellt werden, weil die Versicherer in lang laufende Papiere investiert haben. Sie können nicht ohne Verluste umgestellt werden.
Mit Blick auf Nachhaltigkeits-Standards übt auch die EU Druck auf die Branche aus. Seit dem 2. August 2020 müssen alle Versicherungsvermittler und -makler den Kunden fragen, ob Nachhaltigkeitsaspekte beim Abschluss eines Altersvorsorgeprodukts wichtig seien oder nicht. Beunruhigend sind Berichte aus dem Markt (unter anderem laut einer Umfrage des Verbandes der Versicherungskaufleute), dass drei Viertel der Vermittler die gesetzlichen Anforderungen nicht umsetzen, kommentiert Zielke. Sie fragen den Kunden erst gar nicht. Hier sollten nach seiner Ansicht die Versicherer Druck auf den Vertrieb ausüben.
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Die Finanzwirtschaft sei der beste Hebel, um auch bei der Realwirtschaft ein Umdenken zu bewegen. "Wer Nachhaltigkeit auf die leichte Schulter nimmt, sollte dann auch mit höheren Kosten bei der Kapitalbeschaffung oder beim Einkauf von Versicherungsschutz bestraft werden. Diejenigen, die sich stark bemühen, sollten belohnt werden", fordert der Analyst.