Stefan Golling ist weit rumgekommen: für die Munich Re arbeitete er als Underwriter unter anderem in Japan, Südkorea und in Australien. Er ist also ein Fachmann, der sich auskennt mit globalen Risiken und ihrer Versicherbarkeit. Zu Beginn seines Vortrages beim 23. Vorlesungstag des Institutes für Versicherungswirtschaften Leipzig scherzte er, dass er nie für den deutschen Markt gearbeitet habe - und es eigentlich auch nicht gewohnt sei, Vorträge in deutscher Sprache zu halten. In Australien habe er jede Art von Naturgefahren erlebt, führte er weiter aus: „bis auf Schneedruck“.

Anzeige

Drei elementare Bedingungen für die Versicherbarkeit von Risiken

Eine gewisse Glaubwürdigkeit zu seinem Referatsthema bringe er als Underwriter und Experte, der weite Teile der Welt bereist hat, folglich mit, so Golling. Sein Vortrag beschäftigte sich mit der Frage, welche Risiken aus Sicht der Rückversicherer überhaupt noch getragen werden können - und welche eben nicht. Eine Diskussion, die gerade im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie immer wieder aufkam. Versicherer weigerten sich, für Betriebsunterbrechungen von Unternehmen zu zahlen, weil Pandemie-Risiken laut Vertrag nicht abgesichert seien. Eine komplexe Debatte, die zu vielen Rechtsstreiten führte - ob und unter welchen Bedingen Schutz besteht, hängt von den individuell vereinbarten Vertragsbedingungen ab und kann nicht pauschal beantwortet werden.

Zunächst definierte Golling drei grundsätzliche Vorraussetzungen, damit die privaten (Rück-)Versicherer überhaupt Risiken versichern können. Die Versicherbarkeit hänge demnach maßgeblich von ihrer Bewertbarkeit, Zufälligkeit und Unabhängigkeit ab. Grob umrissen sind hiermit folgende Faktoren gemeint:

Munich Re / 23. Vorlesungstag der Universität Leipzig

  • Bewertbarkeit: Stark vereinfacht müssen Versicherer einschätzen können, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein bestimmter Schaden eintritt: und welche Kosten damit verbunden sind. Das stellt die Branche zum Beispiel dann vor Herausforderungen, wenn neue Risiken zu versichern sind, mit denen es bisher wenig Erfahrungen gibt: und folglich keine verlässlichen Zahlen. Ein Beispiel ist die noch recht junge Gattung Cyberversicherung.
  • Zufälligkeit: Die Versicherungswirtschaft hat es mit zufälligen Risiken zu tun. Das bedeutet, es ist für beide Vertragspartner bis zu einem gewissen Grad ungewiss, ob ein Schaden eintritt, wann und in welcher Höhe. Diesen Punkt führte Golling nicht weiter detailliert aus. Aber weshalb Zufälligkeit zu einer der Vorraussetzungen gehört, kann man sich daran deutlich machen, was es bedeuten würde, wenn ein Versicherungsnehmer einen Schaden absichtlich und wiederholt herbeiführt, um die Versicherungssumme einzustreichen. Ein Schutz kann dann aus Sicht des Versicherers nicht mehr gewährt werden, denn wenn das Beispiel viele Nachahmer findet, würde das den Versicherer sehr wahrscheinlich in den Ruin treiben.
  • Unabhängigkeit/Diversifikation: Hiermit ist gemeint, dass Schäden regional begrenzt und unabhängig voneinander auftreten müssen, damit sie versicherbar bleiben. Ist das nicht gegeben und treten Schäden gleichzeitig und global auf, könnte dies die Finanzkraft der Versicherer sprengen. Sie müssten selbst den Ruin fürchten, wenn das versicherte Risiko nicht einzudämmen ist - und zu viele Versicherungsnehmer gleichzeitig einen Schaden geltend machen.

Mit Blick auf die grundsätzliche Versicherbarkeit von Risiken hatte Golling eine schlechte Nachricht: „Wenn wir heute von systemischen Risiken sprechen, muss uns bewusst sein, dass sie zunehmen“. Das heißt, dass teure Schäden immer wahrscheinlicher werden - solche, die die Stabilität von Volkswirtschaften oder gar dem Finanzsystem gefährden können. Die Globalisierung und Digitalisierung, aber auch der Klimawandel würden dazu beitragen, dass systemische Risiken an Relevanz gewinnen. Die Corona-Pandemie kann hierfür als Beispiel dienen: Ihre Folgen waren weltweit einschneidend.

Pandemien, Cyber, politische Risiken und Klimawandel

In der Folge definierte Golling vier systemische Risiken, mit denen sich die Menschen aktuell konfrontiert sehen - und fragte danach, ob und in welchem Umfang sie versicherbar sind. Diese seien Pandemien, Cybergefahren, politische Risiken sowie der Klimawandel.

Warum diese Risiken eine stabilitätsgefährdende Sprengkraft haben, verdeutlichte der Mathematiker anhand von Schadensummen und -Schätzungen:

Anzeige

  • Allein den wirtschaftlichen Schaden durch Covid-19 beziffert der Internationale Währungsfonds (IWF) auf mittlerweile 12,5 Billionen US-Dollar weltweit.
  • Der Schaden, der Unternehmen allein im Jahr 2021 durch Cyberattacken entstanden ist, wird vom Analysehaus Cybersecurity Ventures auf 6 Billionen US-Dollar geschätzt.
  • Durch den Ukraine-Krieg entstand deutschen Unternehmen nach Schätzungen des DIW Berlin im letzten Jahr ein Schaden von 100 Milliarden Euro.
  • Der Klimawandel bedroht laut dem „Business as usual“-Szenario aktuell 800 Millionen Menschen, deren Städte unmittelbar vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen sein könnten - Städte in Küstennähe drohen unbewohnbar zu werden.

Pandemien - die Versicherungswirtschaft stößt an ihre Grenzen

Als erste systemisches Risiko handelte Golling Pandemien ab - und die Grenzen der Versicherbarkeit wurden hier sehr schnell deutlich. Zunächst hob der Vorstand hervor, dass die private Versicherungswirtschaft -anders als oft in den Medien dargestellt- sehr wohl dazu beigetragen habe, die finanziellen Folgen der Corona-Pandemie zu stemmen. Allein 44 Milliarden US-Dollar hätten die Versicherer bis 2021 global an Schadenszahlungen geleistet.

Doch allein die Schäden, die US-amerikanischen Firmen durch Betriebsunterbrechungen infolge von Corona entstanden sind, schätzt die American Property Casualty Insurance Association (APCIA) auf rund eine Billion US-Dollar: pro Monat. Folglich wäre die Kapitalausstattung der Versicherer innerhalb kurzer Zeit komplett aufgebraucht gewesen, wenn alle Schäden durch Betriebsunterbrechung gedeckt gewesen wären. Mit anderen Worten, die Versicherer wären schlicht pleite. Hier ist klar, dass das Kriterium der Diversifikation nicht erfüllt ist, die Privatversicherer das Pandemie-Risiko folglich nicht allein tragen können. Hinzu kommt, dass der unabhängige Risiko-Modellierer Metabiota die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Pandemie mit dem Ausmaß von Corona auf 22 bis 28 Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre beziffert. Demnach wäre COVID-19 kein singuläres Ereignis.

Eine Lösung auf die begrenzte Versicherbarkeit könnten sogenannte Pandemie-Pools sein: stark vereinfacht ein Zusammenschluss von Versicherungswirtschaft mit nationalen Staaten, wobei jeder einen Teil des Risikos trägt. Diese könnten sogenannte parametrische Deckungen anbieten: Statt einer umfangreichen Prüfung, ob ein Schaden laut Vertrag erfüllt ist, würden dann die Geschädigten schnell und unkompliziert ausgezahlt, sobald bestimmte Kriterien eingetreten sind.

In mehreren Staaten wurden derartige Pools diskutiert, zum Beispiel in Deutschland, den USA und Großbritannien. „Aber wenn man ehrlich ist: Nichts ist geschehen!“, bemängelte Golling. Bisher gebe es in keinem Staat einen solchen Pool, die Diskussion habe sich verlaufen. Sogenannte Epidemic Risk Markets Plattformen seien eine weitere Option, die Versicherbarkeit zumindest zu erhöhen. Neben Banken und (Rück-)Versicherern steuern bei diesem Modell zusätzliche Kapitalgeber Geld bei, etwa die öffentliche Hand oder private Investoren.

Cyberrisiken: versicherbar, aber…

Als nächstes systemisches Risiko handelte Golling Cyberrisiken ab. Die Munich Re sei bei der Versicherung führend, berichtete der Vorstand: inzwischen beziffere sich das Cyber-Portfolio weltweit auf zwei Milliarden Euro in der Erst- und Rückversicherung. Und grundsätzlich sei es spannend, wenn -wie in der Cyberversicherung- eine ganz neue Sparte entstehe, die zudem enorme Wachstumschancen berge. Nach Schätzungen von Munich Re und Allianz könnte die eingenommene jährliche Bruttoprämie in Cyber global von 9,2 Milliarden US-Dollar in 2021 auf 22,1 Milliarden im Jahr 2025 anwachsen.

Aber auch hier mehren sich Stimmen, dass aufgrund der extrem teuren Schäden, die zu erwarten sind, das Risiko künftig nicht mehr versicherbar sein könnte. Auf rund 6 Billionen US-Dollar beziffert das Recherchehaus Cybersecurity Ventures den weltweiten Schaden durch Cyberattacken im Jahr 2021: dieser könnte nach Schätzungen auf 10,5 Billionen im Jahr 2025 anwachsen. Speziell die Voraussetzung der Diversifikation ist hierbei eingeschränkt: Cyberattacken machen nicht vor Staatsgrenzen Halt.

„Wenn wir aber sagen: solche Risiken sind nicht mehr versicherbar, müssen wir uns irgendwann die Frage nach der Relevanz der Versicherungswirtschaft stellen“, merkte Golling hierzu an. Er kritisierte Versicherer, die versuchen, Cyberrisiken vermehrt in ihren Bedingungswerken auszuschließen bzw. Industrie und Gewerbe bereits gewährten Schutz entziehen. Die Munich Re definiere Cyber bereits seit Jahren als strategisches Geschäftsfeld - dies beinhalte auch Angebote, Tools und Netzwerke, um den Gefahren bereits vor Eintritt eines Schadens präventiv zu begegnen. Um die Schadensummen kontrollieren zu können, haben sich in den letzten Jahren zum Beispiel Selbstbehalte, gedeckelte Schadensummen und ein ein klares Wording -inklusive klar definierter Ausschlüsse- in den Bedingungswerken etabliert.

“Cyber ist versicherbar, aber die Grenzen sind identifiziert“, so lautete schließlich das Fazit des Munich-Re-Vorstands. Unter die versicherbaren Risiken fallen zum Beispiel die internen Computer-Systeme der Versicherten, die globale Ausbreitung von weit verbreiteter und nicht zielgerichteter Malware sowie Datenschutz-Verletzungen. Andere Risiken müssten aber bereits über den Umweg von IT-Outsourcing-Anbietern abgedeckt werden, etwa großflächige Ausfälle von Diensten wie der Cloud. Nicht versicherbar sei hingegen der Ausfall von kritischer Infrastruktur: etwa Angriffe auf die elektrische Energieversorgung und Telekommunikation. Das gelte auch für systemrelevante Internet-Dienste wie zum Beispiel Domain Name System-Dienstleister.

"Krieg ist nicht versicherbar"

Als drittes systemisches Risiko setzte Golling das weite Feld der politischen Risiken auf die Karte. Und hob gleich mit Blick auf den Ukraine-Krieg hervor: „Offensichtlich ist Krieg nicht versicherbar“. Das betreffe zum Beispiel die Frage, wer für Flugzeuge einstehen müsse, die über dem Gebiet der Ukraine abgeschossen werden. Zu den nicht versicherbaren Risiken zählte der Experte auch Regierungsumstürze sowie staatliche und militärische Maßnahmen wie Zwangsenteignungen. Bei solchen Ereignissen sei das Akkumulationspotential sehr hoch: Was bedeutet, dass sehr wahrscheinlich eine hohe Zahl an Schäden gleichzeitig eintritt, weshalb sie nicht versicherbar seien. Einzelne Ausnahmen bestünden lediglich im Spezialversicherungs-Bereich.

Beim Blick auf andere politische Risiken wurde im Vortrag deutlich, dass hier sehr genau differenziert werden muss. Lokale zivile Unruhen, im Rückversicherungs-Bereich auch als SRCC-Risiken bekannt (Strike/Riot/Civil Commotion), sind zum Beispiel in Deutschland vornehmlich im Unternehmenskunden-Segment gedeckt. Privatkunden genießen aber hierzulande in der Regel keinen Schutz: abgesehen von einzelnen Leistungs-Bausteinen in Premiumprodukten. Das unterscheidet Deutschland wiederum von vielen anderen Staaten, in denen Versicherer zivile Unruhen standardmäßig in Allgefahrenversicherungen abgesichert haben oder als Zusatz zur Sachversicherung anbieten. Dies hängt aber auch von der jeweiligen Region ab: dort, wo häufiger Unruhen stattfinden, ist die Deckung oft beschränkt oder ausgeschlossen. Die Häufigkeit von zivilen Unruhen sei in den letzten Jahren ebenfalls angestiegen, gab Golling anhand von Statistiken zu bedenken.

Ebenfalls teilweise versicherbar seien Schäden durch Terrorismus, wie Golling weiter hervorhob. Dies betreffe aber vornehmlich Schäden durch „konventionellen“ Terrorismus, etwa durch Explosion oder Feuer - wobei hier ein hohes Änderungs- und Irrtumsrisiko bestehe. Hingegen seien Schäden durch sogenannten NBCR-Terrorismus nicht oder nur sehr eingeschränkt versicherbar. Die Abkürzung „NBCR“ steht hierbei für „Nuclear, Biological, Chemical and Radiological“: gemeint sind also zum Beispiel mögliche Anschläge durch Nuklearwaffen oder chemische Kampfstoffe.

Naturgefahren: „Kerngeschäft eines Rückversicherers“

Als letztes systemisches Risiko standen Naturgefahren auf dem Programm - bzw. Risiken, die durch den Klimawandel vermehrt auftreten. „Naturgefahren sind das Kerngeschäft eines Rückversicherers“, ließ Golling an der grundlegenden Versicherbarkeit keinen Zweifel. Aber der Klimawandel könne dazu führen, dass manche Risiken systemisch werden - und folglich nur noch eingeschränkt versicherbar sind. Bereits ein geringer Anstieg der Durchschnittstemperaturen habe dazu beigetragen, dass die Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen stark angestiegen sei. Als Beispiel nannte der Experte Extremwetter-Ereignisse wie etwa großflächige Waldbrände in Nordamerika und Europa, Rekordhitzen mit damit verbundenen Dürren oder der Taifun Hagibis in Japan, der 2019 rund vier Milliarden US-Dollar zusätzliche Schadenkosten verursacht hat.

Auch in Deutschland sei der Schadenaufwand durch Naturgefahren gestiegen: 2021 sei das bisher teuerste Jahr für die Versicherungswirtschaft gewesen. Das betreffe nicht nur Elementarschäden, sondern zum Beispiel auch Schäden durch Sturm und Hagel. Zwar steige die Versicherungsdichte mit Blick auf Elementar-Deckungen auch hierzulande an, es sei ein positiver Trend zu beobachten: doch noch immer verfüge weniger als jedes zweite Gebäude über solch einen Schutz.

Um die Versicherunsdichte in Deutschland zu erhöhen, sprach sich Golling für ein Opt-Out-Modell und gegen eine allgemeine Versicherungspflicht aus. Soll heißen, den Hausbesitzern soll eine Elementar-Deckung standardmäßig im Rahmen von Wohngebäude-Policen angeboten werden: Diese sollen sie aber aktiv abwählen können. „Die Pflichtversicherung für Elementarschäden ist ein starker Eingriff in die Grundrechte – die aktuellen Vorschläge aus der Politik enthalten hohe Selbstbehalte und verfehlen damit das eigentliche Ziel, weitere Staatshilfen zu vermeiden“, führte Golling zur Begründung aus. Wichtig sei es, dass die Versicherungsprämie risikoadäquat berechnet werde und bestehende Risikomodelle fortlaufend aktualisiert werden. Das erfordere auch hochgranulare Modelle für „Non-peak Perils“ gemäß der aktuellen Klimaforschung: stark vereinfacht die Frage, wie sich das erhöhte Gefahrenpotential durch den Klimawandel auf die durchschnittlichen Schadenkosten auswirkt.

Anzeige

Grundsätzlich sei aber Vorsorge besser als Nachsorge, so plädierte Golling zum Abschluss seines Vortrages. Laut einer Munich Re-Expolation spare jeder investierte Euro für Prävention zehn Euro Schadenkosten in der Zukunft ein. Hier könne die Versicherungsbranche eine aktive Rolle für bessere Präventionsmaßnahmen einnehmen. Wichtig sei etwa, dass der Klimawandel im Bauordnungsrecht verankert werde und entsprechende Schutzziele formuliert würden. In stark bedrohten Gebieten solle es klare Bauverbote geben. Ein bundesweites Naturgefahrenportal mit Unterstützung der Versicherer könne zudem helfen, regional vor Unwettern zu warnen.

Seite 1/2/3/