Versicherungsbote: Private Krankenversicherer fragen Antragsteller in der Regel 10 Jahre rückwirkend, ob sie eine physiotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen haben. Was zählt ihrer Erfahrung nach zu psychotherapeutischer Behandlung? Muss hier jedes Gespräch mit einem Therapeuten angegeben werden, so nichtig der Anlass auch gewesen sein mag? Oder ist dies nur notwendig, wenn eine ernste Erkrankung diagnostiziert wurde?

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Anja Glorius: Grundsätzlich gilt wie bei allen Gesundheitsfragen: Man beantwortet das, nach dem gefragt wird. Die meisten Versicherer fragen ganz allgemein nach psychotherapeutischen Behandlungen und nicht nach dem Erkrankungswert. Das würde in der Endkonsequenz bedeuten: man müsste sogar Dinge angegeben wie eine Ehe- oder Paartherapie oder ein berufliches Coaching – so nennt man häufig, wenn man aufgrund einer beruflichen Situation zu einem Psychotherapeuten geht, weil man sich sagt: Ich komme nicht so gut in Stresssituationen zurecht. Wie kann ich das besser mit Kollegen lösen? Das sind alles Themenbereiche, die unter diese Frage fallen. Und wenn ich sie eben nicht angebe, dann kann es sein, dass ich später dafür Konsequenzen tragen muss.

Immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten nehmen die Behandlung eines Psychologen in Anspruch. Das hat auch eine wichtige präventive Funktion, um späteren Erkrankungen vorzubeugen. Wie gehen private Krankenversicherer damit um, wenn ein Antragsteller in psychologischer Behandlung war? Welche Unterschiede gibt es zwischen den einzelnen Anbietern und wie sollten private Krankenversicherer künftig mit dem Thema umgehen?

Also aktuell ist es tatsächlich noch so, wenn man es sehr salopp ausdrücken würde, dass die private Krankenversicherung sehr hinterwäldlerisch damit umgeht. Das heißt: Aus meiner Sicht hat sich seit den 2000er Jahren in diesen Bereichen überhaupt gar nichts getan. Das heißt, wir haben uns gesellschaftlich zwar verändert – die Schublade „Psychotherapie“ ist nicht mehr ganz so groß und nicht so stigmatisiert –, aber die private Krankenversicherung ist da noch überhaupt nicht angekommen. Gerade nach kurzfristigen therapeutischen Behandlungen, die zum Beispiel aus dem beruflichen Kontext kommen oder aus einem Beziehungsthema ist es so, dass in den ersten zwei Jahren nach wie vor fast alle Wege versperrt sind.

Es gibt einzelne Versicherer, die das Thema sowohl in der Krankenversicherung als auch bei der Berufsunfähigkeitsversicherung mittlerweile aufbrechen und da so ein Stück weit neue Wege gehen. Aber die Versicherer tun sich nach wie vor – teilweise mit Themen, die acht, neun Jahre zurückliegen – immer noch total schwer und sorgen dafür, dass aktuell die Psychotherapie in der privaten Krankenversicherung nach wie vor stigmatisiert ist.

Studenten wird geraten, eine Anwartschaft abzuschließen, wenn sie sich später privat versichern wollen. Schon eine psychologische Beratung bei Prüfungsstress könne dazu führen, dass private Kranken und BU-Versicherer ablehnen. Warum würden Sie auch dazu raten?

Also viele akademische Berufe sind ja dafür bekannt, dass man später gutes Geld verdienen kann. Und wenn man erst später durchaus überlegt, sich selbstständig zu machen oder eben auch zum Beispiel im Maschinenbaubereich oder in anderen Managementbereichen über der Jahresarbeitsentgeltgrenze zu verdienen, dann macht es auf jeden Fall Sinn, so eine Anwartschaft so früh wie möglich abzuschließen. Weil: gerade eben im Studienkontext, das sehen wir zum Beispiel ganz häufig auch bei Referendaren, wird sogar empfohlen, in diesen Stresssituationen sich therapeutische Hilfestellungen zu suchen, um damit besser umgehen zu können. Das ist für Menschen Anfang bis Mitte 20 auch einfach eine wirklich belastende und harte Zeit.

Aus unserer Sicht ist es total wichtig, die Anwartschaft so früh wie möglich abzuschließen. Wir haben das aktuell sogar teilweise, dass wir bereits Familienangehörige von Kindern ansprechen und dafür Sorge tragen, dass die später den Zugang zur privaten Krankenversicherung haben. Denn es gibt eben ganz viele psychotherapeutische Bereiche, die sehr stigmatisiert sind von der PKV. Das fängt zum Beispiel bei ADS oder ADHS bei Kindern im Grundschulalter an ; das zieht weite Kreise auch im logopädischen Bereich oder bei jugendlichen Problemen mit Essstörungen, Hänseleien, Mobbing – diese ganzen Themen halt, von denen viele Kinder betroffen sind.

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Diese Themen führen dazu, dass der Weg in die private Krankenversicherung viele Jahre versperrt sein kann. Und deswegen ist es wichtig, so früh wie möglich eine Anwartschaft zu vereinbaren – gerade eben im Studium, weil dann der akademische Weg eben eingeschlagen ist, und zwar verbunden häufig mit einem erhöhten Einkommen über der Jahresarbeitsentgeltgrenze oder auch mit einer Selbstständigkeit. Aber aus unserer Sicht ist es eben nicht nur empfehlenswert für Menschen im Studium, sondern durchaus bereits für Jugendliche und Kinder, die gesetzlich familienversichert sind, die Anwartschaft zu vereinbaren, um den Zugang zur PKV später günstig und gut zu ermöglichen.

"Man kann sich nicht nur auf die gängigen Versicherer verlassen"

Eine anonyme Risikovoranfrage ist für Vermittler unbedingt Pflicht. Was müssen Vermittler und Kunden dabei beachten?

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Bei der anonymen Risikovoranfrage ist für uns immer wichtig – da achten wir zumindest darauf –, dass wir die Themen für die Voranfrage vollumfänglich aufbereitet haben. Ansonsten muss ich das ja drei bis vier Mal ansprechen und drei bis vier Mal prüfen im Zweifel, dann noch kurz hintereinander. Da wird der Versicherer sagen: Hey stopp, ich hatte das doch schon mal vorliegen, was ist denn jetzt eigentlich? Das ist ein Stück weit immer ein Problem.

Deswegen arbeiten wir zum Beispiel mit einem Tool, das einen großen Gesundheitsfragebogen hat und ziehen uns in den meisten Fällen, wenn der Kunde nur ein klein bisschen bei den Fragen unsicher ist, auch die Akte der Kassenärztlichen Vereinigung zurate oder prüfen die gesamten GV-Rechnungen durch, um sicher zu sein und in vollständiges Profil zu haben.

Für uns ist besonders wichtig, bei der anonymen Risikovoranfrage, dass natürlich Berichte, die ich einreiche, ganz sicher komplett geschwärzt sind, dass kein Rückschluss auf den Kunden erfolgen kann und dass wir ein vollständiges Bild bei Risiken abbilden, um wirklich alle Möglichkeiten zu eruieren. Weil: es gibt eben ganz unterschiedliche Ergebnisse.

Wir hatten schon Kunden, die wurden bei 25 Versicherern abgelehnt, dann aber bei einem ohne Erschwernis angenommen, der wirklich gut ist und bei drei weiteren mit einem Risikozuschlag. Man kann sich also nicht nur auf die wirklich gängigen Versicherer, die man so in seiner Hosentasche hat, verlassen. Sondern man sollte wirklich ein gesamtes Bild für den Kunden abgeben.

Eine umstrittene Studie vom Premium Circle kam 2018 zu dem Ergebnis, dass private Krankenversicherungen selbst in Premium-Tarifen gefährliche Leistungslücken bei der psychologischen Vorsorge aufweisen können. Die Branche wies die Studie empört zurück. Wie sind Ihre Erfahrungen? Gibt es Leistungslücken? Worauf sollte man beim Abschluss einer Vollversicherung mit Blick auf psychische Erkrankungen achten?

Wir können schon sehen, dass sich in den letzten 15 Jahren leistungstechnisch viel angeglichen hat. Also das sehen wir im Bereich Psychotherapie, bei Psychologen – also der Zugangskreis in die verschiedenen Berufsspezifika bei der Psychotherapie ist deutlich weiter geworden. Wir sehen aber immer noch, dass beispielsweise Versicherer auf fünfzig Sitzungen begrenzen. Der Vermittler denkt, es sei je Kalenderjahr; aber im Bedingungswerk steht drin „je Versicherungsfall“.

Und fünfzig Sitzungen im Kalenderjahr mag heute in der Versorgungsstruktur noch ausreichend sein, fündig Sitzungen je Versicherungsfall aber sind viel zu wenig. Fünfzig Sitzungen bedeutet, dass Sie nach zwei Jahren bei einer ganz normalen mittleren Depressionen im Grunde genommen einfach überhaupt nicht mehr hingehen können und stattdessen jede Sitzung mit fast 100 Euro selber bezahlen müssten.

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Das heißt: da sollten Vermittler wirklich explizit nochmal darauf achten, welche Produkte sie auswählen, denn der Vermittler bestimmt am Ende des Tages auch die Produktentwicklung beim Versicherer. Bekommt der Versicherer kein Geschäft, wird er seine Produkte entsprechend weiterentwickeln.

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