Versicherungsbote: „VHV-Gruppe trotzt schwierigen Bedingungen“, melden Sie anlässlich Ihrer Geschäftszahlen 2022. Die Inflation und die Auswirkungen der Corona-Krise haben auch den Versicherern zu schaffen gemacht, insgesamt ist die Branche aber gut durch die Krisenzeit gekommen. Was gestaltete sich speziell für die VHV als herausfordernd - und wie haben Sie darauf reagiert?

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Sebastian Reddemann: Ich kann nur für meinen Bereich, die VHV Allgemeine, unseren Kompositversicherer sprechen, möchte aber auf Ihre Frage antwortend unseren Vorstandsvorsitzenden, Herrn Thomas Voigt, zitieren. Das Geschäftsjahr 2022 der VHV Gruppe war von vielen Herausforderungen geprägt, beginnend mit dem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und in der Folge mit einem enormen Anstieg der Energiekosten, steigenden Lebenshaltungskosten und anhaltenden Problemen der Wirtschaft bei den Lieferketten. Hinzu kommt der starke Zinsanstieg. Auch beschäftigte die VHV Gruppe im Jahr 2022 eine immer umfassendere Regulierung, die sowohl die Bau- als auch die Versicherungsbranche trifft und Wachstum bremst. Für uns war es dennoch ein erfolgreiches und vor allem auch strategisch bedeutsames Jahr. Die Ziele wurden trotz sehr widriger Rahmenbedingungen erreicht, sogar teilweise übertroffen. Die Gruppe hat dies genutzt, um die Solidität und Nachhaltigkeit weiter zu stärken, die Produkt-Angebote und Innovationskraft weiter zu verbessern, die Digitalisierung weiter voranzutreiben und wichtige Weichen für die Zukunft zu stellen.

Dazu zählte auch die weitere Internationalisierung der VHV zu einem europäischen Bauspezialversicherer. Dass die Strategie greift, zeigt sich daran, dass das internationale Geschäft bei den Beitragseinnahmen mit über 350 Mio. Euro (Vorjahr: knapp 280 Mio. Euro) mittlerweile einen Anteil von 9,4 Prozent einnimmt und im Vergleich zum Vorjahr um 26 Prozent gestiegen ist.

Eine Ihrer Zielgruppen sind die Bauwirtschaft und private Bauherren. Die Bauzinsen steigen rasant, Medien berichten über geplatzte Anschlussfinanzierungen für private Bauvorhaben. Steuern wir auf eine Baukrise zu? Wenn ja: Macht sich das in Ihrem Versicherungsgeschäft bemerkbar, z.B. durch sinkende Neuabschlüsse oder steigende Schadenzahlungen?

Es ergibt sich kein einheitliches Bild der Bauwirtschaft. Die aktuelle Situation ist je nach Gewerk und Region sehr unterschiedlich. Während im Wohnungsbau, gerade im Einfamilienhausbau, Auftrags- und Umsatzrückgänge zu spüren sind, bewerten wir die Bereiche energetische Sanierung, regenerative Energien und auch den Infrastrukturbau noch als recht stabil.

Was die Schäden anbelangt: Aufgrund der Baukostensteigerung und der Materialengpässe haben sich diese insbesondere in der jüngeren Vergangenheit – seit Corona und zusätzlich mit Beginn des Ukraine-Krieges – verteuert. Das zeigt auch der VHV-Bauschadenbericht, den wir jedes Jahr gemeinsam mit dem Institut für Bauforschung in Hannover herausgeben. Gerade in Versicherungssparten wie der Berufshaftpflicht für Architekten und Ingenieure müssen entsprechende Rückstellungen gebildet werden.

Wir decken hier das so genannte Long-Tail-Risiko ab. Das heißt, der Schadenfall tritt häufig erst Jahre nach dem eigentlichen Auslöser ein, zum Beispiel nach einem Planungsfehler oder Bauüberwachungsfehler. Das bedeutet, dass Schäden heute teurer reguliert werden müssen, als dies noch vor Jahren angenommen wurde.

Ein weiterer kostentreibender Faktor sind die längeren durchschnittlichen Bauzeiten. Hierdurch verlängert sich der Versicherungszeitraum in der Bauleistungsversicherung. Zufällige Ereignisse wie Unwetterschäden und Vandalismus treten daher statistisch häufiger im Versicherungszeitraum auf.

Wir sind hier allerdings momentan und auch für die Zukunft gut gewappnet, denn wir haben bereits 2021 begonnen, Vorsorge gegen die hohe Inflation und Preissteigerungen zu treffen.

Versicherungsmaklerinnen und -makler sind für das Bauversicherungsgeschäft besonders wichtig. Müssen sie im aktuellen Umfeld - steigende Bauzinsen, Handwerkermangel, steigende Kosten etc. - Privatkunden anders beraten als in weniger krisenhaften Zeiten? Welche Chancen bietet die herausfordernde Situation gerade für Maklerinnen und Makler?

Durch das aktuelle Umfeld werden die Bauherren sensibler beim Thema Sicherheit. Ein „normales Versicherungspaket“, bestehend aus Bauherrenhaftpflicht und Bauleistungsversicherung, ist den Bauherren oft zu wenig. Sie haben ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und fragen sich: „Was passiert bei einem Schadenfall, wenn der Bauunternehmer insolvent ist? Was passiert, wenn in der Gewährleistungszeit Mängel auftreten und der Unternehmer nicht mehr am Markt ist?“. Um dem Bauherrn hier helfen zu können, empfehlen wir den Maklerinnen und Maklern, eine Baukombiversicherung anzubieten. Mit diesem Paket erreicht man ein großes Maß an Sicherheit.

Für Bauherren ist außerdem wichtig, dass sie sich von ihrem Bauträger eine Baugewährleistungsversicherung nachweisen lassen. Ergänzend sollte man auf die Möglichkeit hinweisen, dass der Bauherr vom Unternehmer eine Ausführungs- und eine Gewährleistungsbürgschaft fordert. Dies reduziert das Risiko weiter. Die Frage nach veränderter Beratung gilt auch für unseren angestellten Vertrieb, der vornehmlich Bauherren im gewerblichen Bau berät.

Material- und Baukosten verteuern sich. Droht aus Ihrer Sicht hier eine Unterdeckung bei bestehenden Verträgen? Müssen auch die Vermittler nun aktiv auf ihre Kundschaft zugehen, um notfalls den Schutz anzupassen?

Als führender Bauspezialversicherer folgen wir grundsätzlich den Entwicklungen unserer Kunden: Werden dort durch Inflation, Materialengpässe, Preissteigerungen und Fachkräftemängel die Umsätze und Auftragslagen volatiler, so folgen vielfach die Versicherungsprämien dieser Entwicklung, die regelmäßig nach Umsatz, Honoraren, Gesamtleistung oder Lohn- und Gehaltssumme berechnet werden. Dennoch ist die klare Antwort: Ja. Es ist zu empfehlen, die vereinbarte Versicherungssumme mit dem Versicherungswert unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Veränderungen, wie z.B. der Teuerung oder der derzeit zu beobachtenden Überinflation, abzugleichen und gegebenenfalls anzupassen.

In den Versicherungsverträgen sollten die Versicherungsmakler neben den Versicherungssummen auch die vereinbarten Erstrisikosummen überprüfen. Bei durchlaufenden Verträgen bleiben diese während der Laufzeit oft unverändert. In der Beratung sollte dies ein nicht zu vernachlässigender Punkt sein, denn diese Begrenzungen, beispielsweise in der Bauleistungsversicherung im gewerblichen Bereich, können leicht überschritten werden, wenn diese nicht an die Baupreisentwicklung angepasst werden. Daher sichern wir bei der Bauleistungsversicherung immer zunächst die vorläufige Bausumme (das heißt die Herstellungskosten) ab. Es ist eine notwendige Vorgehensweise, dass wir Beiträge nacherheben, wenn sich die Bausumme ändert.

"Die Haushalte warten erstmal ab"

Sie versichern mehr als 121.000 Unternehmen im Baugewerbe. Die Situation scheint paradox: speziell in den Großstädten fehlt es an bezahlbaren Wohnraum, die Infrastruktur ist vielerorts sanierungsbedürftig. Zugleich klagt die Baubranche laut ifo-Institut über zurückgehende Aufträge und Stornierungen. Was läuft aus Ihrer Sicht hier falsch? Ist Deutschland kein Land zum Bauen mehr?

Die schlechten Nachrichten betreffen nicht die ganze Branche. Die Misstöne beziehen sich insbesondere auf den Wohnungsbau, vor allem den Einfamilienhausbau. In diesem Bereich haben wir in den begehrten Städten schon lange Probleme, angefangen vom Bauland über hohe Bauwerkskosten bis hin zu steigenden gesetzlichen Anforderungen. Die ungewöhnliche „Nullzinsphase“ hat das in den letzten Jahren überdeckt. Jetzt kommen aber alle Faktoren zusammen, hohe Preise und deutlich höhere Finanzierungskosten. Auch die Nebenkosten, vor allem für Energie, sind gestiegen. Die Politik hat zu einer weiteren Verunsicherung beigetragen, weil man Förderprogramme gestrichen und neue Anforderungen angekündigt hat. Niemand weiß genau, wie es mit dem Gebäudeenergiegesetz, aber auch mit anderen Abgaben wie der Grundsteuer, weitergeht. Jetzt warten die Haushalte erst einmal ab. Das ist verständlich.

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Die von der Bundesregierung angekündigten, vorgelegten oder bereits beschlossenen Gesetzesvorhaben zur Beschleunigung von Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren können an den genannten Faktoren übrigens wenig ändern, da sie - wenn überhaupt - zu zeitlichen Verbesserungen führen, nicht aber zu spürbaren Kosteneinsparungen.

Die betroffenen Betriebe profitieren derzeit noch von ihrem guten Auftragsbestand. Es sind noch rund 900.000 Wohneinheiten, die in der Erstellungsphase sind, bzw. sofort gebaut werden könnten. Wenn die von Ihnen angesprochenen Prognosen stimmen, wird sich das Ende des Jahres ändern. Dann könnte es einen spürbaren Einbruch im Wohnungsbau geben. Die Politik weiß das und wird versuchen, gegenzusteuern. Im Übrigen gilt, dass ein hoher politischer Druck auch immer für überfällige Reformen gesorgt hat. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir mittelfristig günstigere Rahmenbedingungen und damit auch wieder mehr Bautätigkeit im Wohnungsbau sehen werden.

Mit dem Baugeschäft sind Sie im Ausland stark gewachsen und wollen sich zu einem europäischen Bauspezialversicherer entwickeln. Welche Märkte stehen dabei besonders im Fokus? Wie gehen Sie mit den regional unterschiedlichen Regelungen und Vorschriften um - spielen diese für das Versicherungsgeschäft überhaupt eine zentrale Rolle?

Wir sind heute bereits in der Türkei, in Österreich, Frankreich und Italien erfolgreich tätig und bereiten weitere risikoadjustierte Ländereintritte vor. Risikoadjustiert bedeutet, wir agieren mit Bedacht.

Ein Beispiel: Der französische Markt ist der größte Bauversicherungsmarkt in Europa und daher immer attraktiv für die VHV Allgemeine. Bereits 2007 haben wir für deutsche Baukunden, die in Frankreich einen Auftrag annehmen wollten, die französische Pflichtversicherung, die so genannte „Décennale Versicherung“ angeboten. In Frankreich gibt es nämlich, anders als in Deutschland, ein sehr weitreichendes und durch Pflichtversicherungen abgesichertes System gegen Baumängel. Mit der „Décennale“ werden die zehnjährigen Garantieansprüche abgedeckt. Als erster deutscher Versicherer hatten wir unseren Kunden bei Bauprojekten in Frankreich damit den geforderten Gewährleistungsschutz ermöglicht und so eine große Hürde aus dem Weg geräumt.

In anderen südeuropäischen Ländern, zum Beispiel in Italien und Spanien, gibt es ähnliche Versicherungssysteme wie in Frankreich, in der Regel aber weniger weitgehend. Aber auch hier und in weiteren Märkten wollen wir sukzessive unser Geschäft ausbauen und unseren dortigen Kunden Produkte und Services in VHV-Qualität bieten, zum Beispiel auch die Pflichtversicherung für Architekten und Ingenieure.

Sie betonen die Wichtigkeit von Prävention - auch mit Blick auf Bauschäden. Wie konkret können Versicherer dazu beitragen, dass Schäden schon im Vorfeld vermieden werden? Haben Sie hierfür Beispiele?

Wir tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, Bauschäden zu vermeiden. In erster Linie mit dem VHV-Bauschadenbericht, der nun schon im vierten Jahr erschienen ist und sich immer abwechselnd mit Hoch- und Tiefbauschäden befasst. Wir geben ihn gemeinsam mit dem Institut für Bauforschung Hannover, heraus. Er bietet einen aktuellen und umfassenden Überblick zum Thema Bauschäden und -mängel sowie zum Status der Qualität beim Planen und Bauen. Der Bericht soll dazu beitragen, von den Erfahrungen anderer zu lernen, den Austausch unter Experten zu fördern, wissenschaftliche Entwicklungen aufzuzeigen und damit Schäden zu verhindern.

Bei großen Bauvorhaben, die wir versichern, wie beim Neubau einer Autobahnbrücke, bieten wir das so genannte Risk Engineering an, eine Risikobegleitung vor Ort auf der Baustelle. Dabei geben unsere Experten Empfehlungen zur Schadensverhütung ab, wenn sie auf der Baustelle mögliche Gefahrenquellen erkennen.

Wenn wir Kunden im gewerblichen Bereich beraten, weisen wir darauf hin, dass es Sensoren und Durchlaufventile gibt, die Wasserschäden, welche verhältnismäßig häufig vorkommen und teuer sind, reduzieren können. Mobile Brandmeldeanlagen auf Baustellen tragen dazu bei, Brandschäden zu minimieren. Bei sensiblen Altbauten, wie zum Beispiel bei U-Bahn-Anlagen, ist ein Monitoring-Konzept des Versicherungsnehmers, das zum Beispiel Sensoren beinhaltet, die Voraussetzung dafür, dass wir das Projekt versichern.

Können Versicherer auch aktiv darauf hinwirken, dass nachhaltiger gebaut wird? Wie engagiert sich hier die VHV Allgemeine als wichtiger Partner des Baugewerbes?

Im Rahmen des VHV-Bauschadenberichts stellt die VHV immer wieder Expertenwissen zur Verfügung, auch zum nachhaltigen Bauen finden sich dort Best Practices und wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Betriebe umsetzen können. Zudem veranstalten wir für die Baubranche im Februar den VHV-Bautag, bei dem Expertinnen und Experten aus Baugewerbe, Architektur und Recht Vorträge halten, auch zum nachhaltigen Bauen.

Darüber hinaus ist die VHV bei vielen Veranstaltungen aktiv, zuletzt bei der „80 Sekunden – Neues Bauen“ in Berlin.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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