Erwerbsunfähigkeitsversicherung: Beschönigende Bestnoten? Ein Rating wird schlecht bewertet
Was taugen private Erwerbsunfähigkeitsversicherungen? Und können sie eine Alternative sein für den Fall, dass ein Berufstätiger keine vollwertige Absicherung seiner Arbeitskraft findet? Der Biometrie-Experte und Versicherungsmakler Gerd Kemnitz hat Zweifel. Er sieht in EU-Tarifen unbefriedigende Notlösungen: und kritisiert ein Rating von Morgen & Morgen, bei dem Tarife mit Schwächen Bestnoten erhielten.
Was taugen private Erwerbsunfähigkeitsversicherungen? Laut einem Marktvergleich des Analysehauses Morgen & Morgen sehr viel. Zum fünften Mal haben die Prüfer aus Hofheim am Taunus entsprechende Angebote unter die Lupe genommen, zwei Drittel der untersuchten Tarife erhielten dabei die Bestnote. „Die Erwerbsunfähigkeit steht aktuell zu Unrecht auf dem Abstellgleis, denn sie ist neben der BU die einzige Alternative, die tatsächlich die Arbeitskraft absichert“, kommentierte Andreas Ludwig, Bereichsleiter Rating & Analyse bei Morgen & Morgen. Damit spielt er darauf an, dass immer mehr Versicherer ihre Angebote vom Markt nehmen.
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An diesem Rating kommt nun aber scharfe Kritik. Gerd Kemnitz ist Versicherungsmakler und Experte für die Absicherung biometrischer Risiken. Wiederholt hat er kompetent zu aktuellen Marktentwicklungen in der Branche Stellung bezogen. So auch in einem aktuellen Kommentar für die Webseite cash-online.de, in dem sich Kemnitz über die Flut sehr guter Bewertungen wundert.
Zwar räumt auch Kemnitz ein, dass eine gute Erwerbsunfähigkeitsversicherung eine empfehlenswerte Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung sein könne: für jene Zielgruppe, die aufgrund eines Risikoberufes keinen bezahlbaren Schutz finden. Allerdings mache ihn stutzig, „wenn das Analysehaus unter der Überschrift „Der Markt ist klein aber fein“ elf Tarife von neun Versicherern mit fünf Sternen – also der Bestnote – bewertet“, schreibt Kemnitz.
Erwerbsunfähigkeit: strenge Definitionen
Das Problem: Auch wenn die Tarife die Bestnote einheimsen, so bleiben sie doch in ihrer Definition von Erwerbsunfähigkeit hinter der gesetzlichen Definition zurück. „Denn tatsächlich leistet kein einziger Tarif die Erwerbsunfähigkeitsrente in Anlehnung an die gesetzliche Definition bei voller und teilweiser Erwerbsminderung“, berichtet der Makler.
Die gesetzliche Rentenversicherung zahlt eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn die Betroffenen wegen Krankheit oder Behinderung weniger als drei Stunden täglich arbeiten können. Dabei wird nicht nur der zuletzt ausgeübte Beruf berücksichtigt - sondern alle Tätigkeiten. Ein Chefarzt kann folglich auch auf eine Tätigkeit als Pförtner verwiesen werden. Die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wird ausgezahlt, wenn die betroffene Person noch mindestens drei, aber nicht mehr sechs Stunden täglich arbeiten kann. Die entsprechenden Grundlagen sind im sechsten Buch Sozialgesetzbuch aufgeführt (§ 43 Abs. 2 SGB VI und (§ 240 SGB VI).
Doch abgesehen vom Tarif „MetallErwerbsminderungsschutz Flex Komfortschutz“, einem Premiumtarif des Versorgungswerks MetallRente, garantiere kein weiterer Tarif die halbe EU-Rente, wenn der Betroffene die Bedingungen für teilweise Erwerbsminderung erfüllen würde, berichtet Kemnitz. Also, wenn der Betroffene mehr als drei, aber weniger als sechs Stunden arbeiten könne. Und es komme noch schlimmer. Einige der Tarife mit Bestbewertung forderten noch zusätzlich, dass für die aufgenommene Tätigkeit kein Einkommen erzielt werden dürfe, das über der monatlichen Grenze für eine geringfügige Beschäftigung liege. Das sind aktuell 520 Euro im Monat. Die Grenze würden aber Versicherte schon überschreiten, wenn sie täglich zwei Stunden zum Mindestlohn arbeiten würden - dann ist der Versicherer leistungsfrei.
Keine Beitragsbefreiung bei Berufsunfähigkeit
Ein weiteres Problem: Viele Tarife sehen keine Beitragsbefreiung im Falle einer Berufsunfähigkeit vor. Aber viele Krankheiten vollziehen sich langsam und in Schüben. Es ist also wahrscheinlich, der Versicherungsnehmer erleidet zunächst eine lange Phase der Berufsunfähigkeit, bis er letztendlich die Bedingungen für den Erhalt einer Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt. Wovon soll also der Betroffene die Beiträge für diese Versicherung bezahlen, zunächst „nur“ berufsunfähig wird? Je nach vereinbarter Monatsrente liegen die Beiträge im schnell im dreistelligen Bereich.
Dass die Beitragslast für viele Versicherungsnehmer ein Problem zu werden droht, zeigt das Beispiel der kapitalbildenden Lebens- und Rentenversicherungen. In solchen Tarifen ist ein Leistungsbaustein „Beitragsbefreiung bei Berufsunfähigkeit“ standardmäßig angeboten. Wird der Versicherte berufsunfähig, übernimmt dann der Versicherer die weitere Beitragszahlung, das Sparziel bleibt ungefährdet. Die Branche ist folglich für das Problem sensibilisiert: und der Verdacht liegt nahe, dass bei EU-Tarifen bewusst eine solche Leistung ausgeschlossen wird.
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Aufgrund der angesprochenen Mankos seien „die derzeit angebotenen Erwerbsunfähigkeitsversicherungen keine wirkliche Alternative zur Arbeitskraftabsicherung – höchstens eine unbefriedigende Notlösung“ kommentiert Kemnitz. Das ändere sich auch nicht, wenn Ratinghäuser diese Tarife schönreden und mit vielen Sternen bewerten.