Abrücken vom Äquivalenzprinzip
Doch alle Einkünfte für die Sozialversicherung heranziehen: Gibt es da nicht Probleme? Schließlich sind damit ja auch Anrechte auf Leistungen verbunden. Bei der Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung sei es relativ unproblematisch, alle Einkünfte zu berücksichtigen, argumentieren Whittaker und Reichel. Hier hängen die Leistungen nicht von der Höhe der Einzahlung ab. Anders hingegen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung. Hier gilt das Äquivalenzprinzip: stark vereinfacht, dass jeder eingezahlte Euro auch den gleichen Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen nach sich zieht. Wer viel einzahlt, erwirbt folglich auch höhere Rentenansprüche.
Zudem werden die Leistungen der Renten- und Arbeitslosenversicherung als Lohnersatzleistung verstanden. Das bringt ein Problem mit Kapitaleinkünften mit sich: Es muss schlicht gerechtfertigt werden, darauf Sozialbeiträge zu erheben, da sie von der Erwerbsarbeit abgekoppelt sind und auch im Rentenalter Ertrag abwerfen. Deshalb brauche man Kapitaleinkünfte nicht mit Sozialversicherungsbeiträgen belasten. „Allerdings zeigt die Digitalisierung, dass sich Geschäftsmodelle viel schneller verändern. Es ist nicht mehr gesichert, dass Unternehmen auch in späteren Jahrzehnten existieren und Renditen erwirtschaften“, heißt es im Papier. Daraus lasse sich rechtfertigen, auch Kapitaleinkünfte entsprechend zu belasten.
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Noch schwerer könnten verfassungsrechtliche Bedenken wiegen. Würde man alle Leistungen heranziehen, müsste man laut Gesetz auch die Leistungen verbessern: im schlimmsten Fall ein Nullsummenspiel, weil mehr Einnahmen ja auch mehr Ausgaben gegenüberstünden.
Als Lösung für dieses verfassungsrechtliche Problem schlagen Whittaker und Reichel zwei Schritte vor. Zum einen soll die Beitragsbemessungsgrenze abgeschafft werden: Damit werden alle Einkünfte sozialversicherungspflichtig. Das würde die Einnahmen erhöhen, aber auch zu einer deutlichen Mehrbelastung von Menschen mit hohen Einkommen in der Sozialversicherung führen.
Schritt Numero zwei ist eine Aufteilung der Sozialversicherungsbeiträge in einen Beitrags- und einen Umlageanteil. „Der Beitragsanteil funktioniert nach dem Äquivalenzprinzip. Je mehr man einzahlt, desto mehr erhält man raus. Der Umlageanteil hingegen ist ein progressives Element, das wie eine Steuer funktioniert. Für diesen Anteil erhält man keine individuelle Leistung, sondern sie ist ein Beitrag zur sozialen Absicherung der Gesellschaft“, heißt es im Konzeptpapier. Diese würden sich aktuell auf 27,6 Prozent des Bruttoeinkommens summieren, wenn die Reform wie vorgeschlagen umgesetzt würde. Die Anteile verschieben sich jedoch abhängig von der Höhe des Einkommens. Je höher das Gehalt, desto höher der Umlageanteil.
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Damit sei es möglich, die Steuerzuschüsse in die Renten- und Krankenversicherung direkt einzugliedern und den steuerlichen Finanzbedarf transparenter gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu machen, versprechen die beiden Autoren.