Industrieversicherung: Transparente und digitale Risikobeschreibung muss zum Standard werden
Eine transparente Risikobeschreibung im Industriegeschäft ist nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch eine rechtliche Notwendigkeit, meint Artur Reimer, CEO bei corify und Vorstand von Hypoport Insurtech AG. Im Gastbeitrag erklärt der studierte Bauingenieur, warum.
Vor rund drei Jahren sorgte die Ever Given international für Aufsehen: Das Containerschiff blockierte wochenlang den Suezkanal. Mitten in der globalen Corona-Pandemie sorgte der Unfall für weltweite Lieferengpässe und führte zu wirtschaftlichen Verlusten. Auch die kürzlich ansteigenden Angriffe von Huthi-Rebellen auf Seefrachter haben die Wirtschaft erneut auf die Probe gestellt. Welche Möglichkeiten hat die Versicherungsbranche, darauf zu reagieren?
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Die jüngsten Vorkommnisse auf dem Suezkanal sind nur zwei aktuelle Beispiele von vielen weiteren, die verdeutlichen, dass die Risikokomplexität bei Industrieunternehmen immer weiter steigt. Mit dieser Veränderung wächst auch der Anspruch an Versicherungsunternehmen, die entsprechenden Risiken korrekt einzuordnen und abzudecken – jetzt und auch in Zukunft.
Die Diskussion über Relevanz und Umsetzung sowie Vorteile und Herausforderungen von digitalen Ökosystemen in der Versicherungsbranche ist so aktuell wie nie.
Doch das ist bisher noch eine komplexe Herausforderung – nicht nur für die Versicherer selbst, sondern auch für die Makler und Industrieunternehmen: Die derzeitigen Prozesse, Risiken zu identifizieren, zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten sind kaum standardisiert. Die bisherige Risikobewertung ist intransparent und auch die Leistungen und Versicherungsprämien entsprechen nicht der Gefahrenlandschaft. In der Vergangenheit reagierte der Versicherungsmarkt darauf hauptsächlich mit Prämiensteigerungen. Infolgedessen steigen die Prämien seit dem Jahr 2017 stetig an, während die Leistungen reduziert werden – eine Entwicklung, die auf lange Sicht gesehen keiner beteiligten Partei im Markt weiterhilft.
Digitale und transparente Risikobeschreibung gewinnt an Bedeutung
Durch diese Branchenentwicklungen ist die Versicherungstechnik in den letzten Jahren immer weiter in den Fokus gerückt. Der zentrale Aspekt hierbei ist es, die Risikobeschreibung standardisiert in die Versicherungsprozesse zu integrieren und sie transparent – und vor allem digital – abzubilden.
Eine solche detaillierte Risikobeschreibung ermöglicht es Versicherern, spezifische Risiken von Industrieunternehmen genau zu identifizieren und zu analysieren. Diese Risiken variieren je nach Branche, Betriebsgröße, geografischer Lage und Technologieeinsatz erheblich. Angesichts der Komplexität dieser Anforderungen stoßen standardisierte Versicherungsangebote an ihre Grenzen. Nur durch ein tieferes Verständnis dieser individuellen Risikoprofile können Versicherer passgenaue Produkte entwickeln.
Die bisweilen noch stark verbreitete papiergebundene Arbeitsweise ist ein Aspekt, der die digitale und standardisierte Risikobeschreibung bisher erschwerte – und gleichzeitig die Wichtigkeit nach Digitalisierung und Automatisierung ein ums andere Mal aufzeigte. Der Grund: Marktteilnehmer kämpfen noch immer mit veralteten Systemen. Das verkompliziert die effiziente Verarbeitung komplexer Daten und die Anpassung an dynamische Risikoumgebungen.
Gerade angesichts zunehmender Cyber-Risiken und geopolitischer Unsicherheiten benötigen Industrieunternehmen Versicherungslösungen. Lösungen, die individuell auf die Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind – und sich entlang der sich rapide entwickelnden, variablen Gefahrenlandschaft, anpassen können. Diesem Anspruch, können Versicherungsunternehmen ohne eine standardisierte und digitale Risikobeschreibung langfristig nicht gerecht werden. Eine ganze Branche schon gar nicht.
Des Weiteren ist eine transparente Risikobeschreibung nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch eine rechtliche Notwendigkeit. In vielen Ländern unterliegen Versicherungsunternehmen strengen Vorschriften bezüglich der Risikobewertung, so wie auch die Industrieunternehmen selbst zu Risikomanagement und damit Risikotransparenz verpflichtet sind. Die standardisierte und nachvollziehbare Risikobeschreibung ist daher entscheidend, um diesen Anforderungen gerecht zu werden und gleichzeitig ein verantwortungsvolles Risikomanagement zu gewährleisten.
Der Weg zum Beschreibungsstandard für eine sich schnell verändernde Welt
Aber wie kommt man nun zu einer standardisierten Beschreibung von Industrierisiken? Viele sagen, die folgenden Herausforderungen eine Standardisierung des Industriegeschäfts fast unmöglich machen:
- Die Individualität und Komplexität der Risiken ansich
- Die sich immer schneller verändernde Risikowelt, mit der die Branche konfrontiert ist.
Moderne Informationstechnologie hat jedoch schon in anderen Feldern bewiesen, dass sich auch komplexe und sehr individuelle Realitäten digitalisieren lassen. Solche Erfolge werden immer auf Basis von Abstraktion und zunehmend unter Nutzung von Generik erreicht:
Abstraktion bis zum erforderlichen Grad ermöglicht es, selbst hohe Individualität und Komplexität der zu beschreibenden Welt zu standardisieren. Abstraktion im Risikomanagement bedeutet, die vielfältigen und komplexen Risiken auf ihre wesentlichen Merkmale zu reduzieren, sodass sie unabhängig von individuellen Besonderheiten und branchenspezifischen Unterschieden bewertbar und handhabbar werden. Generik wiederum hilft, schnell auf sich verändernden Gegebenheiten reagieren zu können. Eine ausgewogene Kombination aus Abstraktion und Generik eignet sich also perfekt, um die Standardisierung der sich schnell entwickelnden Risikowelten zu erreichen.
Mit der Branche, für die Branche
Die transparente und digitale Risikobeschreibung als Standardprozess zu etablieren, impliziert per se eine Veränderung innerhalb der gesamten Versicherungsbranche. Möglicherweise kann hier sogar mit Blick auf die bisherige Entwicklung und die Schwachstellen innerhalb der Branche von einem gravierenden Wendepunkt gesprochen werden.
Doch auch diese Veränderung kann langfristig zu positiven Marktentwicklungen führen:
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- Durch standardisierte Kriterien können Versicherer Risiken systematischer und objektiver bewerten. Das führt langfristig zu faireren und präziseren Prämien, was wiederum das Kundenvertrauen stärkt durch eine solide und transparente Tarifgestaltung.
- Ein einheitliches Vorgehen bei der Risikobeschreibung kann zu mehr Innovation in der Branche führen: Einheitliche Daten ermöglichen einen effektiveren Einsatz von KI und maschinellem Lernen, um Risikobewertungen zu entwickeln und zu verfeinern. Das führt zu besser individualisierten Versicherungsprodukten und ermöglicht intelligente Services zur Schadenvorhersage, -minderung und -vermeidung.
- Eine standardisierte Risikobeschreibung führt zu einer effizienteren Risikoabschätzung und einer verbesserten Abstimmung zwischen Versicherern und ihren Kunden. Dies führt ebenfalls zu Policen, die präzise auf die spezifischen Risikoprofile der Unternehmen zugeschnitten sind und die Kundenzufriedenheit erhöhen.
- Die Etablierung einer transparenten Risikobeschreibung kann zur Vereinheitlichung und Verbesserung der Regulierungsstandards beitragen. Ein solcher Industriestandard kann die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften begünstigen und dazu beitragen, dass die Branche als Ganzes transparenter und verantwortungsbewusster agiert. In einer Zeit, in der Regulierungsbehörden strengere Anforderungen an das Risikomanagement stellen, ist gerade das besonders wichtig.
- Eine standardisierte Risikobeschreibung fördert die Wettbewerbsintensität innerhalb der Branche: Sie schafft eine gemeinsame Grundlage, auf der sich Versicherer differenzieren, beispielsweise durch Kundenservice, Effizienz und innovative Lösungen. Die Folge ist ein gesunder, dynamischer (Versicherungs-)markt, von dem letztlich die Verbraucher (hier die Industrieunternehmen) profitieren.
Fazit: Die Einführung einer standardisierten und digitalen Risikobeschreibung markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Versicherungsbranche. Diese Neuerung fördert nicht nur eine systematische und objektive Risikobewertung, was zu faireren Prämien und gestärktem Kundenvertrauen führt, sondern sie treibt auch die Innovationskraft der Branche voran. Darüber hinaus unterstützt eine transparente Risikobeschreibung die Einhaltung regulatorischer Vorschriften. Das führt auf lange Sicht gesehen zu einer verantwortungsbewussteren und transparenteren Branche. Diese Entwicklung intensiviert den Wettbewerb, indem sie eine gemeinsame Basis für Versicherungsunternehmen schafft, sich durch Service, Effizienz und Innovation zu differenzieren. Diese Veränderungen begünstigen einen dynamischeren Markt, der den Bedürfnissen der Industrieunternehmen in Zukunft besser gerecht wird.