★★★★☆ DEM GEHIRN BEIM DENKEN ZUSEHEN von Monika Niehaus und Martin Osterloh ist ein faszinierendes Buch. Es nimmt die Leser mit auf eine unterhaltsame und informative Reise durch die Welt der Neurowissenschaften, Psychologie und Medizingeschichte. Die Autoren präsentieren darin eine Sammlung von kurzweiligen Denkanstößen. Diese beleuchten die Vielfalt und Komplexität des Gehirns und umfassen sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch originelle Ansichten und kritische Reflexionen.

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Celine Nadolny

Celine Nadolny

Celine Nadolny ist mit Book of Finance Deutschlands einflussreichste Sachbuchkritikerin. Mit mehr als 300 rezensierten Sachbüchern erhielt sie mittlerweile 12 Branchenpreise und ist somit die meistausgezeichnete Finanzbloggerin der DACH-Region. Celine möchte so viele Menschen wie nur möglich dazu inspirieren, mehr zu lesen, ihre Finanzen in die Hand zu nehmen und ein erfüllteres Leben zu führen.

Dabei beginnt das Buch mit einem einladenden Vorwort. Dieses wirft neugierige Fragen zu verschiedenen Themen auf. Beispielsweise zur Fälschbarkeit von Erinnerungen, zur Bedeutung des Intelligenzquotienten, zur Künstlichen Intelligenz und zum freien Willen. Zum Einstieg bieten die Autoren einen spannenden „Lageplan“ des Gehirns und nehmen uns mit auf eine Reise durch verschiedene Aspekte.

Inhaltlich decken die Kapitel des Buches eine beeindruckende Bandbreite an Themen ab. Es geht los mit der Frage nach dem Sitz der Intelligenz im Gehirn und der Konstruktion von vernünftigen Intelligenztests. Dabei diskutieren die Autoren, ob Intelligenz womöglich angeboren ist oder durch Umweltfaktoren später in der Entwicklung beeinflusst wird. Und sie werfen einen Blick auf den Pygmalion-Effekt und den Flynn-Effekt, um die Vielschichtigkeit des Themas nochmals zu verdeutlichen.

Ein für mich besonders interessanter Abschnitt befasst sich mit dem Gedächtnis. Darin geht es um die Speicherung von Informationen im Arbeitsspeicher bis hin zu den verschiedenen Unterabteilungen des Langzeitgedächtnisses. Die Autoren beleuchten dabei auch die Herausforderungen, die mit Gedächtnislücken, Konfabulation, Alzheimer und posttraumatischen Belastungsstörungen einhergehen. Und sie präsentieren die faszinierende Geschichte einer Person, die sich ihr Leben lang an jeden einzelnen Tag ihres Lebens so erinnern kann, als wäre es gestern gewesen. Für manche eine Traumvorstellung, für Betroffene aber das komplette Gegenteil. Mehr möchte ich an dieser Stelle aber nicht spoilern.

Wer mich schon etwas länger verfolgt, weiß, dass dieser Abschnitt auch aus persönlicher Betroffenheit sehr relevant für mich war. Alzheimer ist in meinen Augen zweifelsfrei eine der schlimmsten Erkrankungen, die Menschen treffen können. Das bekomme ich jede Woche mehrmals unter Beweis gestellt und es bricht mir das Herz, es mitanzusehen. An dieser Stelle wünsche ich allen Menschen Kraft, die Ähnliches durchmachen.

Thematisch führt das Buch anschließend weiter durch die Welt der Bildgebungstechniken, angefangen bei der Tomografie bis hin zu modernen Quantensensoren. Wir erhalten Einblicke in die Herausforderungen der Hirnforschung, wenn sie mit einem fischähnlichen Gehirn konfrontiert wird. Außerdem diskutieren die Autoren die wissenschaftliche Erfassung von Lügen durch den Polygraphen und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI).

Besonders spannend ist auch der Abschnitt über das sich entwickelnde Gehirn in Pubertät und Adoleszenz. Dieser beleuchtet Phänomene wie Pruning, Myelinisierung, Testosteron und Impulskontrolle. Die Autoren behandeln in diesem Zusammenhang auch sehr ernste Themen wie jugendliche Gewalttäter und psychische Störungen. Das hebt das Buch zeitweise nochmals auf eine andere Ebene und fügt eine wichtige gesellschaftliche Dimension hinzu.

Ein zentraler Punkt in der Diskussion über das Gehirn ist der freie Wille. Dieser wird durch das Libet-Experiment und die Debatte darüber, ob Multitasking wirklich effektiv ist, untersucht. Wer sich damit noch nicht auseinandergesetzt hat, sollte das unbedingt nachholen.
Das Buch schließt mit einer Aufforderung zum eigenen Denken ab. Hier betonen die Autoren besonders die Wichtigkeit des freien Willens und diskutieren dessen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.

An dieser Stelle ein paar Worte zu den Autoren:
Monika Niehaus ist eine Neurowissenschaftlerin aus Düsseldorf. Ihre langjährige Karriere und ihre Arbeit als Autorin spiegeln ihre Fachkenntnisse und ihre Leidenschaft für die Erforschung des Gehirns. Sie hat sich darauf spezialisiert, komplexe neurowissenschaftliche Themen in einer verständlichen und unterhaltsamen Weise zu präsentieren. Ihr Wissen teilt sie gerne mit einem breiten Publikum. Dabei erstrecken sich ihre Beiträge über verschiedene Bereiche der Neurowissenschaft, Psychologie und Medizingeschichte.
Martin Osterloh, ansässig in Ratingen, ist ebenfalls ein erfahrener Neurowissenschaftler und Autor. Seine Expertise deckt ein breites Spektrum von Themen innerhalb der Neurowissenschaften ab. Auch er macht die Faszination für das menschliche Gehirn engagiert einem breiten Publikum zugänglich.

„Lassen sich Erinnerungen fälschen? Was sagt der Intelligenzquotient eigentlich aus? Ist Künstliche Intelligenz tatsächlich intelligent? Warum treffen intelligente Menschen oft so unvernünftige Entscheidungen? Wozu braucht es einen freien Willen? Wie entstehen all diese bunten Bilder, mit denen Hirnforscher und Neuropsychologen ihre Erkenntnisse belegen? Gefährdet ärztliches Multitasking das Wohl der Patienten? Lässt sich Teenagerverhalten neurophysiologisch verstehen? Spiegeln Spiegelneurone wirklich unser Gegenüber? Wo verläuft die Grenze zwischen psychisch normal und krank? Und kann man Träume tatsächlich fotografieren?“ Monika Niehaus & Martin Osterloh

Was mir direkt sehr positiv aufgefallen ist, war die sehr angenehme Bindung des Buches. Sowohl für die initiale Haptik als auch für das längere Lesen war diese perfekt gewählt. Darüber hinaus gefällt mir auch das Cover sehr. Insbesondere in Verbindung mit dem meiner Meinung nach sehr ansprechenden Titel. Preislich würde ich das Buch allerdings mit Bezug auf das Layout und die Bindung als leicht zu teuer einstufen. 20 Euro wären hier mein persönliches Limit gewesen, wenn es mein eigenes Buch gewesen wäre. Mit 22 Euro ist es aber noch im Rahmen, weshalb das für mich kein sonderlich großer Kritikpunkt ist. Inhaltlich war ich direkt im Buch drin. Das Thema empfinde ich einfach als hochgradig spannend. So war es nicht das erste Buch, was ich dazu gelesen habe, und auch ganz bestimmt nicht das letzte. Mir gefällt vor allem die Gratwanderung zwischen Wissenschaft und leicht verdaulichem Inhalt, den im Grunde jeder mal nebenher lesen kann.

Sehr schön und sinnvoll sind auch die kürzeren Zusammenfassungen am Ende der Kapitel. Vor allem, weil das ein oder andere Kapitel für meinen Geschmack etwas zu lang geraten ist. Ich hätte allerdings nicht mit so vielen unterschiedlichen Schriftarten pro Doppelseite gearbeitet, sondern stattdessen Farben, Kästen, Überschriften oder dergleichen eingesetzt.
Beim Lesen – insbesondere in den späteren Kapiteln – wurde ich sehr an die Werke von Rolf Dobelli erinnert. Vielleicht, weil ich auch erst kürzlich wieder eine Neuauflage von ihm in der Hand hatte und rezensiert habe. Gerade in diesem direkten Vergleich muss ich aber festhalten, dass Dobelli in manchen Bereichen noch etwas mehr überzeugt. Vor allem optisch und sprachlich gefallen mir seine Werke doch ein wenig besser. Das heißt nun aber nicht, dass dieses Buch hier sehr abgeschlagen wäre.

Rolf Dobelli geht zwar inhaltlich nicht derart in die Tiefe. Das wäre aber meiner Meinung nach auch nicht an allen Stellen unbedingt notwendig gewesen. Auch preislich liegen Dobellis Bücher selbst in aufwändig gestalteter Hardcover-Bindung mit Lesebändchen 6 Euro unterhalb dieses Buches. Trotzdem bleibt dieses Buch selbstverständlich ein sehr gutes und vor allem spannendes Werk. Ich kann es wärmstens allen empfehlen, die sich ebenso wie ich gerne mit dieser Themenwelt beschäftigen. Denn ich habe es beim Lesen sehr genossen.

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In ihrem Vorwort betonen die Autoren, dass das Buch keine umfassende Abhandlung der Themen bietet. Vielmehr soll es Denkanstöße für neugierige Leser liefern. Das gelingt ihnen hervorragend, indem sie komplexe wissenschaftliche Konzepte verständlich und unterhaltsam präsentieren.
Meiner Meinung nach eignet sich das Buch bestens für komplette Einsteiger in die weite Welt der Neurowissenschaften. Ebenso interessant ist es aber auch für bereits erfahrenere Leser mit einigen Vorkenntnissen. Denn die Autoren vermitteln nicht nur fundierte Informationen. Sondern vor allem regen sie die Leser dazu an, selbst zu denken und weiterführende Literatur zu erkunden. Dem Gehirn beim Denken zusehen ist somit ein empfehlenswertes Buch. Insbesondere für alle, die sich für die faszinierende Welt des Gehirns interessieren und bereit sind, ihre Denkgrenzen zu erweitern.