„70 Prozent aller Schadensansprüche erfordern menschliches Eingreifen“
Wo kommt Künstliche Intelligenz bereits jetzt zum Einsatz in Versicherungsunternehmen? Welche Anwendungsfelder werden erschlossen und welche Schwierigkeiten bereitet das? Dr. Fabian Reinkemeier, Managing Consultant & Conversational AI Expert bei elaboratum, antwortet im Interview.
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Wie kann Künstliche Intelligenz Prozesse in der Schadensregulierung beeinflussen?
Dr. Fabian Reinkemeier: KI revolutioniert insofern die Schadensregulierung, als Automatisierung und Effizienzsteigerungen zu einer erheblichen Reduzierung der Bearbeitungszeiten führen. Die automatische Schadenserkennung, präzise Schadensbewertungen, die auf historischen Daten basieren, und die Analyse von Dokumenten und Bildern ermöglichen eine effizientere Entscheidungsfindung und die Erstellung von ersten Kostenvoranschlägen. Durch die schnelleren Prozessabläufe steigt die Kundenzufriedenheit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich vermehrt auf komplexe Fälle konzentrieren, da Routineaufgaben von der KI übernommen werden.
Wie groß sind hier die Potenziale beziehungsweise wie viel Zeit oder Manpower kann hier eingespart werden?
Aktuell erfordern fast 70 Prozent aller Schadensansprüche menschliches Eingreifen, weil die automatische Bearbeitung oft Fehler aufweist. Die Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz in der Schadensregulierung bieten daher ein enormes Potenzial: Sie könnten nicht nur die Effizienz erheblich steigern, sondern auch den Umfang der Routineaufgaben deutlich reduzieren. Zusätzlich könnten digitale Assistenten schon bei der Anmeldung von Schäden unterstützen, indem sie Kundinnen und Kunden dabei helfen, ihre Schadensmeldungen vollständig und fehlerfrei einzureichen. Dies würde insbesondere in Situationen helfen, in denen die Informationen unvollständig sind.
Wie können KI-Systeme beispielsweise bei der Betrugserkennung in Schadensmeldungen und im Kundenverhalten angewendet werden?
KI-Systeme verbessern die Betrugserkennung durch den Abgleich von Betrugs- und Echtfällen sowie durch die Identifizierung von Mustern, Nutzerverhalten und Ausreißern. Diese Fähigkeit zur Mustererkennung, die sich auf umfangreiche historische Daten stützt, macht KI für die Identifizierung eines potenziellen Betrugs zum idealen Helfer. Benötigt werden dafür aber präzise und verifizierte Datensätze, um das Risiko von Fehlalarmen beziehungsweise einer fälschlichen Erkennung von Betrug inklusive längerer Bearbeitungsdauer für betroffene Kundinnen und Kunden zu minimieren. Auch eine falsche Nicht-Auszahlung sollte vermieden werden.
Welche Maßnahmen werden ergriffen, um mögliche Risiken und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Nutzung von KI in der Betrugssimulation zu minimieren?
Um die Risiken und Herausforderungen im Umgang mit KI zu minimieren, sind die Entwicklung verbesserter Algorithmen und die strenge Einhaltung von Datenschutz und Sicherheitsstandards essenziell. Ein Human-Supervised-Training und die regelmäßige Wartung der KI-Systeme helfen, Stigmatisierung zu vermeiden und die Genauigkeit zu erhöhen. Cybersicherheitsmaßnahmen schützen die Infrastrukturen, in denen KI eingesetzt wird.
Wie können Versicherer sicherstellen, dass KI-Technologien in der Betrugsbekämpfung sowohl effektiv als auch ethisch eingesetzt werden?
Versicherer müssen den Datenschutz priorisieren und ethische Richtlinien für den Einsatz von KI festlegen, um sicherzustellen, dass die Technologie effektiv und ethisch korrekt eingesetzt wird. Viele Versicherungsunternehmen haben das bereits getan. Aus ethischer Sicht dürfen natürlich nur jene Fälle wirklich abgelehnt werden, die einen klaren Betrug ausweisen. Denn bei Personen, die beispielsweise wirklich ein Leiden haben, darf nicht gespart werden, und es sollte in diesen Fällen nicht zu einer Verkomplizierung der Prozesse kommen. Insgesamt ist es im Hinblick auf Ethik immer wichtig, eine transparente Kommunikation mit den Kundinnen und Kunden über die Datensammlung und -verwendung sowie das Einholen ihrer Zustimmung zu verfolgen. Bei all den Maßnahmen sollten immer der Nutzen für Kundinnen und Kunden und vor allem das Kundenvertrauen im Vordergrund stehen.
Welche Vorteile und Herausforderungen könnten sich aus der zunehmenden Verwendung von KI-gesteuerten digitalen Assistenten ergeben?
Digitale Assistenten bieten Vorteile wie Hyperpersonalisierung, 24/7- Verfügbarkeit und die Übernahme einfacher Anfragen, wodurch die Kundenzufriedenheit gesteigert und Kundenservicekosten gesenkt werden können. Insgesamt bieten digitale Assistenten den Vorteil dyadischer anstatt statischer Interaktionen. Es besteht zudem die Möglichkeit, Vorteile wie Echtzeit-Übersetzungen zu implementieren, um individuell auf verschiedene Nutzerinnen und Nutzer eingehen zu können. Generell kann im Dialog auch besser auf individuelle Präferenzen eingegangen werden. Digitale Assistenten bieten zudem im Telefonbereich großes Potenzial: Sie können beispielsweise durch die Authentifizierung über einen Voicebot bereits den Kundenservice entlasten. Weitere Herausforderungen umfassen die Entwicklung komplexer, autonomer Prozesse und die Gewährleistung von Datenschutz und Sicherheit.
Welche neuen Fähigkeiten können KI-Technologien den Versicherungsunternehmen bieten, um etwa komplexe Produkte einfacher zu erklären?
Die Fähigkeit, große Datenmengen zu analysieren, unterstützt eine individuellere Kundenberatung und Produktgestaltung. Es bietet sich die Chance, relevante Informationen mit Large Language Models (LLMs) aus umfangreichen Texten wie den allgemeinen Versicherungsbedingungen zu extrahieren und lange Dokumente in prägnante Inhalte zu verdichten. Für Kundinnen und Kunden bietet sich so die Chance, Rückfragen zu stellen, zum Beispiel „Erkläre mir bitte XYZ, als wäre ich ein Anfänger/etwas erfahren/ein Profi …“. Idealerweise erfolgen auch Anbindungen an die Bestandskundensysteme, sodass zu den individuell abgeschlossenen Verträgen möglichst spezifische Informationen geliefert werden können. Das Ziel kann dann sein, komplexe Versicherungsinformationen in leicht verständliche Inhalte umzuwandeln.