Nachdem die Arbeitswelt in den Corona-Jahren teils einen enormen Wandel vollzogen hat und Home Office in vielen Branchen nicht nur selbstverständlich geworden ist, sondern zeitweise sogar gesetzlich vorgeschrieben war, wollen viele Unternehmen ihre Mitarbeitenden verstärkt wieder zurück ins Büro holen. In einer Erhebung durch YouGov gaben bereits im Jahr 2022 knapp 30 Prozent der Befragten an, dass es bei ihnen sogar wieder eine Anwesenheitspflicht gibt. In 2023 ist diese Quote weiter gestiegen. Das stößt bei manchen Mitarbeitenden auf Unverständnis, vor allem da sich die anfängliche Sorge vor Produktivitätseinbußen nicht bewahrheitet hat. Befürworter der Rückkehr in Präsenz argumentieren mit einer besseren Kommunikation untereinander und einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl zum Unternehmen.

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cms.jsbpl.300x269Markus Zimmermann... ist Leiter Strategieberatung Versicherungen bei Accenture (DACH).www.accenture.com

Damit stellt sich auch für die Versicherungsbranche nun die Frage, wie dauerhaft ein „richtiges“ Verhältnis von Home Office und Büroanwesenheit definiert werden soll: Wieviel Videokonferenzen sind sinnvoll, wie flexibel lassen wir die Teams und Mitarbeitenden sich selbst organisieren, wie sieht ein Arbeitsumfeld im Betrieb künftig aus, und schließlich die Frage einer potenziellen „Anwesenheitsquote“ im Büro. Dabei gibt es so viele Chancen aus einem „New Normal“, von denen alle Beteiligten profitieren könnten. Was braucht es also für erfolgreiche neue Arbeitsmodelle in Versicherung?

Reine Anwesenheitsquoten stellen in der Regel weder Mitarbeitende noch Führungskräfte zufrieden

Die Realität der vergangenen 12 Monate war häufig das Festlegen einer generellen Anwesenheitsquote – oder zumindest die Ambition einer solchen Quote. Diese initialen Definitionen hatten häufig zwei Einflussgrößen: Das Führungsverständnis des Managements sowie die finanziellen Aspekte aus Raumbelegung und Raumkosten. Was dabei aber oft vergessen wird: Die Mitarbeitenden teilen sich hauptsächlich in zwei Gruppen ein. Einerseits gibt es die „Home-Office-Fans“, die die neue Flexibilität und gesparte Pendelzeit schätzen und im Home Office in der Regel produktiver sind. Andererseits gibt es die „Büro-Begeisterten“, die kurze Wege und persönliche Absprachen schätzen, sich in der bekannten Struktur wohler fühlen, mit Videokonferenzen immer noch etwas fremdeln und Berufliches vom Privaten bewusst trennen.

Eine generelle Quote versucht, hier einen Kompromiss für alle zu finden – doch leider führt dieser zu Unmut auf beiden Seiten. Die Home-Office-Fans fühlen sich sinnlos ins Büro zitiert, um am Ende häufig doch wieder in Videokonferenzen mit den Kollegen zu sprechen, die heute gerade nicht im Büro sind. Für die Büroliebhaber hingegen ist die altbekannte und ersehnte Office-Kultur auf diese Weise nicht wirklich wiederhergestellt. Als Konsequenz daraus hat kaum ein Versicherungsunternehmen in den vergangenen Monaten die selbstgesteckte Anwesenheits-Ambition erreicht. Zugleich ist die Home-Office-Nutzung der „Fans“ mittlerweile quer über alle Branchen wieder zurückgegangen: Während 2022 noch 41 Prozent der erwerbstätigen Internetnutzenden mehrmals pro Woche von Zuhause aus arbeiteten, waren es Ende 2023 nur noch knapp 31 Prozent (bidt Studie 2023). Es braucht also einen sorgfältigeren Blick auf die Entscheidungsdimensionen und eine bewusstere Differenzierung der neuen Modelle.

Je nach Kontext und Kultur braucht es differenzierte Modelle hybriden Arbeitens

Die Versicherungswirtschaft ist in ihrem Geschäfts- und Betriebsmodell grundsätzlich natürlich nicht vergleichbar mit der produzierenden Industrie. An Produktionsstandorten ist die vor-Ort-Arbeit unabdingbar. Wertschöpfung muss in Versicherung wiederum – bei entsprechend organisiertem Zusammenarbeitsmodell – nicht zwingend an einem oder wenigen Orten gebündelt stattfinden. Umgekehrt braucht die Sicherstellung eines gut organisierten Zusammenarbeitsmodells aber auch das richtige Maß an räumlicher Nähe und persönlichem Austausch. Ja nach Art der Tätigkeit muss daher das richtige Modell gefunden werden.

Für Produktmanager und Prozessdesigner kann es Sinn ergeben, häufig im kreativen Miteinander vor Ort Ideen zu entwickeln, um Versicherungsprodukte, Kundenjourneys und Prozesse neu zu designen. Mitarbeitende in den Operations können hingegen den Großteil ihrer Tagesarbeit sehr effektiv vom Home Office aus erledigen und dabei ein gewisses Maß an Flexibilität nutzen. Im Vertrieb wiederum unterscheiden sich die Vorteile des Home Office sehr deutlich darin, ob es um Vertriebsunterstützung, Online-Vertrieb oder persönliche Kundeninteraktion geht. Letztere kann je nach Kunde vor Ort oder auch digital stattfinden. Die Beispiele zeigen: Ein „One Size fits all“-Modell kann schon mit Blick auf unterschiedliche Tätigkeiten nicht funktionieren. Zusätzlich ist das persönliche Empfinden der oben skizzierten „Büro-Begeisterten“ und „Home-Office-Fans“ zu berücksichtigen, um geeignete Differenzierung sicherzustellen.

Führung und Zusammenarbeit müssen neu gedacht werden

Um all diesen Anforderungen gerecht zu werden, braucht es ein Neudenken von Führung und Zusammenarbeit. Die Denkweise von Führungskräften muss dabei weniger auf Hierarchie und Kontrolle, sondern auf Rahmensetzung, Verantwortungsdelegation und Vertrauen basieren. Viele Mitarbeitende – insbesondere der jüngeren Generationen – schätzen diese neue Art der Führung und zahlen das Vertrauen der Führungskraft durch hohe Motivation, Eigenverantwortung und Kreativität zurück. In diesen Fällen kann ein Home-Office-Modell zum wichtigen Erfolgsfaktor für dauerhaft zufriedene und performante Mitarbeitende werden. Eine gute Führungskraft muss aber auch erkennen, wenn einige im Team von diesem neuen Setup erst einmal überfordert sind und weiterhin „traditionelle“ Führung einfordern. Hier gilt es, das Arbeits- und Führungmodell in geeigneten Schritten zu verändern und die Mitarbeitenden auf dem Weg zum flexibleren Arbeiten zu unterstützen.

Für jede Art von Home-Office-Modell müssen natürlich Regeln und Grundlagen der Zusammenarbeit geschaffen werden – sowohl digital als auch vor Ort. Digital geht es zunächst um die stabile Sicherstellung von Tools für die Kommunikation und Zusammenarbeit. Ebenso wichtig sind hier mittlerweile Regeln und Empfehlungen zum Umgang mit diesen Tools: Wann und mit wie vielen Personen sind Videokonferenzen sinnvoll? Wie fokussieren wir unsere Arbeit, ohne ständig von Chats und Messages abgelenkt zu werden? Wie werden notwendige Pausen sichergestellt? Die vergangenen Jahre haben uns allen gezeigt, wie wichtig solche Themen sind – und Führungskräfte müssen als Teil ihrer Rolle gerade bei diesen Fragen Orientierung und Hilfestellung geben.

Neue Anforderungen an Gebäudeplanung und Raumnutzung

Neben der digitalen Zusammenarbeit gibt es natürlich weiterhin die Notwendigkeit zu persönlichen Treffpunkten. Damit verbunden ist zunächst die Frage, wann es im jeweiligen Arbeitskontext Sinn ergibt, sich im Firmengebäude zu treffen. Wie oben bereits skizziert, kann das sehr unterschiedlich ausfallen: In der Produktentwicklung beispielsweise wird es Phasen intensiver persönlicher Zusammenarbeit geben aber ebenso Phasen von operativer Detailarbeit; das könnte einen Wechsel von mehreren Office-Wochen und mehreren Home-Office-Wochen bedeuten. In Operations-Teams können hingegen regelmäßig definierte Office-Tage zweckmäßig sein, an denen möglichst viele vor Ort sind, um neben dem fachlichen Austausch gerade das Gemeinschaftsgefühl zu fördern.

Die beiden Beispiele machen deutlich, dass individuelle Lösungen gefordert sind, die manchmal auch zu Herausforderungen im Sinne effizienter Gebäudenutzung führen können. Hier braucht es gute Abstimmung der Wochenplanungen über alle Einheiten hinweg und höhere Flexibilität bei der Raum- und Arbeitsplatzgestaltung. Viele Versicherer haben in den vergangenen Jahren bereits begonnen, ihre Meetingräume und Arbeitsplätze an künftige Anforderungen anzupassen – diese Veränderungsreise wird sicher noch einige Jahre andauern.

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Moderne Arbeitsmodelle machen die Versicherungsbranche attraktiver für Talente

Hybrides Arbeiten ist viel mehr als nur eine Anwesenheitsquote. Es braucht ein differenziertes Verständnis für die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder eines Versicherers und für die Bedürfnisse der unterschiedlichen Gruppen an Mitarbeitenden. Und es braucht ein klares Umdenken auf Ebene der Führungskräfte – von der Unternehmensspitze bis in operative Führungsrollen. Auch die Versicherungsindustrie hat sich in den vergangenen Jahren bereits spürbar auf den Weg gemacht. Ein gelungenes hybrides Arbeitsmodell wird immer mehr zum entscheidenden Faktor für Mitarbeitendenzufriedenheit – mit enormen Effekten auf Talentgewinnung und Talentbindung. Und es ist ein oft noch unterschätzter Produktivitätstreiber, der mit dem anstehenden Generationswechsel in vielen Versicherungsfunktionen in den kommenden Jahren noch wichtiger wird. „New Normal“ in Arbeits-, Führungs- und Zusammenarbeitsmodellen ist somit ein dauerhafter Prozess, kein einmaliges Projekt. Aber es lohnt sich gerade in der Versicherungsbranche, diesen Prozess bewusst voranzutreiben.