Viele Jahre war Frank Grund das Gesicht der Versicherungsaufsicht in Deutschland, seit Januar 2024 schaut Julia Wiens als neue Exekutivdirektorin den Versicherern und Altersvorsorgeanbietern auf die Finger. In einem Interview mit dem Handelsblatt" erklärt die 54-jährige Mathematikerin jetzt, welche Schwerpunkte sie setzen will. Dabei rückt auch der defizitäre Preiswettbewerb in einigen Sparten ins Blickfeld.

Anzeige

Gefragt wird Wiens zunächst danach, weshalb sie ohne Schonfrist aus dem Vorstand der Baloise an die Spitze der Versicherungsaufsicht wechselte - das hatte auch für Kritik gesorgt. „Mich reizt die Möglichkeit, die Versicherungsbranche als Ganzes zu gestalten. Spannend finde ich, dass sich mein Blick nun auf die gesamte Branche richtet“, erklärt sie. Zudem möchte sie die Transformation der Behörde mitgestalten, so wie sie es auch bereits bei der Baloise getan habe.

Kostensenkung in Lebensversicherung ist ein "Marathon"

Zudem kündigt sie eine robuste und durchsetzungsstarke Aufsicht an. „Mir ist wichtig, dass die Versicherungsaufsicht als wirksam, zielorientiert und durchsetzungsstark wahrgenommen wird. Wenn die Bafin etwas sagt, hat das Gewicht“, sagt sie. In den letzten Jahren ist die BaFin dabei auch auf Widerstand gestoßen: etwa bei dem Versuch, die Abschlusskosten bei Lebensversicherungen wirksam zu deckeln. Mit ihrem Vorhaben, sogenannte Provisionsrichtwerte einzuführen, hatte die Behörde keinen Erfolg. Statt eines allgemeinen Richtwertes für Provisionen wollen sich die Aufseher nun auf Ausreißer konzentrieren, das heißt: Versicherer maßregeln, die überdurchschnittlich hohe Provisionen und Verwaltungskosten berechnen.

Konkret wird Wiens auf das Merkblatt mit neuen Wohlverhaltensregeln für die Lebensversicherer angesprochen: im Mai 2023 herausgegeben, gilt dies als „letzte Möglichkeit, die ausufernden Kosten einzudämmen“, wie die Interviewerin anmerkt. Hat diese Maßnahme bereits Wirkung gezeigt? „Die Lebensversicherer wissen jetzt, dass wir bei den Anbietern genau hinschauen, die bei den Kosten auffällig sind – wenn also die Effektivkosten höher als im Branchendurchschnitt sind. Einige Unternehmen fangen bereits an nachzubessern“, erklärt Wiens. Man habe in Einzelfällen Verbesserungen zugunsten der Kunden bewirken können - folglich nicht im Branchenschnitt?

Aber die Umsetzung der Wohlverhaltensregeln sei „eher ein Marathon als ein Sprint“, erklärt die Chef-Aufseherin. Und weiter: „Wichtig ist uns, dass die Unternehmen ihre Produkte so gestalten, dass sie die Absicherungsbedürfnisse und die Renditeerwartungen der Kunden mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit erfüllen“. Hier sei die Reduktion der Vertriebskosten eine Möglichkeit.

Andere Optionen werden im Interview indirekt angesprochen: So hat die Generali zum Beispiel auf die Kritik der Behörde reagiert, indem sie nachträglich die Rendite erhöht hat, aber die Vertriebsvergütung nicht reduzierte. Darüber hinaus können die Lebensversicherer auch bei den Verwaltungskosten sparen - oder eben eine ausreichend hohe Rendite auf ihre Geldanlagen erzielen.

Die Wohlverhaltensregeln der BaFin verpflichten die Lebensversicherer darauf, den Kundennutzen ihrer Produkte in den Mittelpunkt zu stellen - und zwar bereits bei den Produktfreigabeverfahren. Auf verpflichtende Vorgaben verzichtet die Behörde hierbei, allerdings wird als langfristiges Anlageziel genannt, dass sich der Anlageerfolg an den Inflationserwartungen der Europäischen Zentralbank orientieren solle. Das bedeutet eine Rendite von mindestens zwei Prozent, und zwar nach Kosten.

Regulierungsschritte in Schaden- und Unfallversicherung?

Doch die Lebensversicherung stehe vergleichsweise gut da und habe den Zinsanstieg gut überstanden, berichtet Wiens weiter. Und wird auf eine andere Baustelle angesprochen: Die Schaden- und Unfallversicherung. Hier trifft ein beinahe verbittert geführter Preiswettbewerb auf die hohe Inflation, was dazu führt, dass viele Versicherer in bestimmten Sparten auch ein negatives versicherungstechnisches Ergebnis akzeptieren, um Kundinnen und Kunden zu gewinnen und zu halten. Sie geben für die Regulierung von Schäden und die Verwaltung mehr aus, als sie an Beitrag einnehmen. Beispiel Autoversicherung: Das Kölner Analysehaus Assekurata schätzt, dass mehr als jeder zweite Kfz-Versicherer derzeit nicht profitabel ist.

Julia Wiens macht im Interview deutlich, dass die BaFin dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen will. „Vor allem in der Kfz-Versicherung waren die Prämiensteigerungen branchenweit nicht deutlich genug, um das Geschäft profitabel zu betreiben. Dauerhaft defizitäre Sparten akzeptieren wir aber nicht“, mahnt sie. Sie erwarte, dass die Versicherer im kommenden Jahr weiter nachbessern.

Anzeige

Auch die langen Bearbeitungszeiten bei den Versicherern hat die Aufsichtsbehörde im Auge. Die Beschwerden über Schadensbearbeitungen seien 2023 über alle Sparten hinweg massiv angestiegen, berichtet Wiens. Ursache seien IT-Probleme, Fachkräftemangel und erhöhtes Schadenaufkommen. Dies wolle die BaFin im Auge behalten - und einschreiten, wenn es Hinweise gebe, dass die Probleme auf Mängel in der Geschäftsorganisation hindeuten und nicht nur Einzelfälle seien.