“Insurtechs haben nichts gebracht,” hörte ich erst jüngst einen Bereichsleiter eines großen Versicherers sagen.

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Und er hat Recht.

Insurtech-Start-ups haben seit 2015 kaum Marktanteile gewonnen. Kein Versicherer wurde von ihnen in die Knie gezwungen. Anders als bei den Fintechs blieben radikale Marktumwälzungen aus - trotz der beeindruckenden Erfolgsgeschichten von Clark, Getsafe, WeFox, Deutscher Familienversicherung, Neodigital, andsafe und von weiteren Unternehmen.

Allerdings ist der Bereichsleiter auch unfair.

Die Bedrohung durch neue Marktteilnehmer hat einige Versicherer dazu veranlasst, etwas Unerwartetes zu tun.

Sie analysierten. Sie reagierten. Und sie nahmen ordentlich Geld in die Hand.

Neu-Gründungen durch Versicherer

Die Allianz beispielsweise investierte viele Millionen Euro in Allianz X. Zwar änderte der Marktführer nach einigem Knirschen im Gebälk die Ausrichtung – weg von einem Accelerator und hin zu einem Investment-Arm. Nichtsdestotrotz zeigten a) die Gründung und b) die Neuausrichtung, dass man sich in der Königinstraße in München ernsthaft mit Innovation und Veränderung auseinandersetzt.

Ähnlich die Provinzial. Mit andsafe hat man einen zu 100 Prozent digitalen und schnellen Versicherer gegründet. Wer dachte, das würde an Beharrungskräften oder der Fusion scheitern, sah sich getäuscht. andsafe gehört heute zu den Insurtech-Erfolgsstories in Deutschland.

Ich wage die These: Ohne den Druck der digitalen Angreifer und ohne jenen Spiegel, den sie etablierten Unternehmen vorgehalten haben, wären viele Versicherer nicht auf die Idee gekommen, risikoreiche Neugründungen zu starten.

Und das Scheitern von Coya/Luko zeigt: Neugründungen sind kein Selbstläufer.

Eine neue Generation von Entscheidern

“Das können wir bald auch”, sagte mir der CIO eines großen Versicherers Ende 2016, als ich ihm das Video des bis dahin völlig unbekannten Start-ups Lemonade zeigte. Mit “Das können wir auch” meinte er eine KI-gestützte Antragsstrecke in Form eines Chatbots. Natürlich konnte der Versicherer das nicht - und war mit seiner veralteten IT, die nicht einmal einen Überblick über die laufenden Systeme hatte, Lichtjahre davon entfernt.

Die völlige Selbstüberschätzung mancher Entscheider, gepaart mit der Weigerung, die neue Realität anzuerkennen, führte auch zu einer Bereinigung in den Vorstandsetagen. Der besagte Herr konnte sich noch ein paar Jahre halten, aber dann dämmerte es auch dem CEO und dem Aufsichtsrat. Der CIO verließ das Unternehmen “freiwillig, um sich der Wissenschaft zu widmen”.

Und verzichtete auf die 1,7 Millionen Jahresgehalt?

Is klar.

Schon vor der Pandemie konnte man bei vielen Versicherern beobachten, wie eine neue Generation mit einer neuen Art zu denken, zu handeln und zu führen in entscheidende Positionen bei den Versicherern aufrückte. Darunter auch Vorstände. Darunter (endlich) viele fähige Frauen.

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Ohne den Druck von außen hätte der CEO nie seinen gleichaltrigen Buddy gefeuert und nie einer ganz neuen Kohorte eine Chance gegeben - wie in vielen Häusern. Insurtech hat auch zu einer personellen Erneuerung geführt.

Cloud und KI zum Durchbruch

Noch vor wenigen Jahren stand in manchen IT-Abteilungen auf die bloße Erwähnung des Wortes “Cloud” die Prügelstrafe. Provider von IBM, msg bis AWS trauten sich das Thema kaum anzusprechen – mit der berechtigten Furcht, im hohen Bogen vom Firmengelände zu fliegen.

Viele Insurtechs haben jedoch gezeigt, dass Versicherung und Cloud zusammen gedacht und zusammengebracht werden können. Dies hat bei vielen Versicherern - zusammen mit einer neuen Generation von Entscheidungsträgern - zu einem Umdenken geführt. Auch wenn die Cloud kein Allheilmittel ist, so ist sie doch Teil einer modernisierten IT-Strategie geworden.

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Dasselbe gilt für KI und neue Dienstleister. Insurtech besteht nicht nur aus digitalen Angreifern, sondern auch aus digitalen Helfern. So sind ganz neue Anbieter entstanden, die Versicherern smarte technische Problemlösungen anbieten - sei es Friss für die Betrugserkennung, kasko2go für die Risikomodellierung oder LPP für die Portfolio-Optimierung. Und auch Anbieter wie msg, IBM, SAP und Guidewire haben ihr Produkt- und Serviceangebot modernisiert.

Eine neue Community für neue Probleme

In den Anfängen von Insurtech trafen sich Gründer, innovationsbegeisterte Versicherungsexperten und andere Rebellen auf neuen Events - wie der Exec.Insurtech, organisiert vom Pirates Summit.

Es war schon fast konspirativ.

Da traf man auch einen Julian Teicke, der mir voller Begeisterung an einem klapprigen MacBook die ersten Entwürfe seiner wefox-Software zeigte.

Heutzutage haben sich auch die Veranstaltungsformate verändert.

Wir haben eine InsureNXT in Köln, die Magic of Innovation in Wien und die veränderte DKM als zentrale Events der Branche. Auch diese haben sich massiv verändert.

Nicht nur der Schlips scheint Geschichte.

Es soll sogar Vorstände geben, die dort mit costumized Sneakern erscheinen. Wäre so etwas vor Insurtech - vor 2015/16 - möglich gewesen?

Es kommt halt alles anders als man…

Fazit: Die deutsche Versicherungswirtschaft ist unter den Angriffen der digitalen Herausforderer seit 2015/16 nicht zusammengebrochen. Es gab keine dramatischen Marktanteilsverluste (anders als z.B. bei Banken durch neue Wettbewerber wie Neobanken).

Das liegt aber daran, dass die Versicherer - sicherlich langsamer als von mir erhofft - reagiert haben und reagieren.

Heute hat eine teilweise neue Generation von Entscheidungsträgern und -trägerinnen die Verantwortung übernommen und treibt intern Innovation und Modernisierung voran. Gleichzeitig stehen von außen neue und erneuerte Dienstleister bereit, um mit Technologie und Dienstleistungen zu helfen.

In Social Media und Marketing sind sie (fast) alle noch schlecht

Bei aller Euphorie an dieser Stelle: In einem Punkt sind fast alle Versicherer und Insurtechs gleich schlecht.

Kaum ein Versicherer (abgesehen von den positiven Beispielen der Provinzial-Tochter OCC und der Deutschen Familienversicherung - sowie ERGO für Kampagnen) nutzt Tiktok, und wenn, dann eher erfolglos. Und auch bei LinkedIn kann man sich bei vielen Versicherern und Entscheidern noch regelmäßig fremdschämen.

Dabei ist das Potenzial, dort Kunden, Mitarbeiter und Bewerber zu erreichen, gigantisch. Vor allem die Sparkassen machen derzeit vor, wie es geht.

Es gibt also noch einiges zu tun – sowohl in der Technik als auch in der Organisation, im Marketing und im Vertrieb.

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Ich find’s geil. Packen wir es an.

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