Von digitaler Barrierefreiheit profitieren alle
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz stellt Versicherungsunternehmen vor eine anspruchsvolle Aufgabe. Dirk Weske, Vorstand PPI AG, meint jedoch: Wer die Anforderungen als Chance begreift, leistet nicht nur einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag, sondern trägt zur Verbesserung der User Experience für alle Benutzer bei.
Eine kurze Frage an alle Leser: Haben Sie schon einmal einen Screenreader genutzt? Falls Sie das Wort nicht einordnen können: Screenreader sind die Programme, die es Blinden oder sehbehinderten Personen möglich machen, einen Computer oder ein Smartphone zu bedienen. Aus offenkundigen Gründen ist es dieser Personengruppe nicht möglich, sich wie Personen mit intaktem Sehvermögen durchzuklicken. Screenreader unterstützen sie dabei, indem sie vorlesen, was auf dem Bildschirm angezeigt wird.
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Stellen Sie sich nun einmal vor, mit einem solchen Screenreader auf der Website Ihres Instituts einen Schadensfall zu melden. Geht das?
Hintergrund meiner Frage: Meine Kollegen aus dem Bankenbereich haben kürzlich eine Stichprobenanalyse zum Stand der Barrierefreiheit bei deutschen Banken durchgeführt. Anlass ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), welches am 28.06.2025 in Kraft treten wird.
Darin untersuchten sie 25 Banken aus allen Sparten anhand von ausgewählten Kriterien auf den aktuellen Umsetzungsstand der digitalen Barrierefreiheit. Das Ergebnis: Bislang erfüllt noch keine der analysierten Banken-Websites die gesetzlichen Mindeststandards vollständig.
Bei deutschen Versicherungsunternehmen dürfte das Bild ähnlich sein. Dabei fallen sie als B2C-Unternehmen ebenso unter das Gesetz. Es stellt sich also die Frage: Was verlangt dieses BFSG konkret?
Den Umfang der Aufgabe, die Anforderungen des BFSG umzusetzen, lässt sich am besten an ein paar konkreten Beispielen verdeutlichen. Kommen wir dazu zum Screenreader zurück. Dieser springt von einem Element der Website zur nächsten und liest vor, was dieses Element ist und was es tut (zum Beispiel ein Formularfeld oder ein Link). Beispiele:
- Website-Elemente sind in der HTML-Struktur nicht hierarchisch sinnvoll geordnet. In diesem Fall kann es dazu führen, dass der Screenreader beispielsweise nicht von Hauptmenüpunkt zu Hauptmenüpunkt springt, sondern jeden Unterpunkt abarbeiten muss, bevor der nächste Hauptpunkt erreicht wird. Oder das Cookie-Consent-Banner wird nicht direkt bei dessen Erscheinen ausgewählt, sondern erst nach mühsamem Durchklicken durch den Rest der Website-Elemente (deren Bedienung währenddessen vom Consent-Banner blockiert wird). Auch die Option, direkt aus dem Seitenmenü auf den eigentlichen Inhalt der Seite zu springen, fehlt oft.
- Bildelemente können durch einen Alternativtext sinnvoll ersetzt werden - oder dies ist nicht der Fall. Das ist besonders gravierend, wenn das Bildelement eine erläuternde Grafik ist, die unter Umständen selbst Text enthält. Hier sollte der Alternativtext die Grafik ersetzen und nicht schlicht „Eine erläuternde Grafik“ ausspucken.
- Popups sollten vom Screenreader erfasst werden. Dies ist besonders bei Formularen relevant. Stellen Sie sich vor, nach einem umfassenden Formular senden Sie auf „Absenden“ – und scheinbar nichts geschieht. Das ist die Erfahrung der Screenreader-Nutzer, denen die visuell erscheinende Fehlermeldung, beispielsweise bei falscher oder mangelnder Eingabe eines Pflichtfeldes, nicht vorgelesen wird.
Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, es ginge bei den Anforderungen des BFSG ausschließlich um die Beseitigung von Barrieren für Personen mit starken Seheinschränkungen.
Die ersten Bilder, die das Wort „Barrierefreiheit“ auslöst, sind zwar Rampen und Aufzüge für gehbehinderte Personen oder Blindenleitsysteme. Was die meisten Menschen aber nicht vor Augen haben, sind sogenannte temporäre oder auch situative Barrieren. Ein Beispiel hierfür ist ein Handgelenkbruch, der Betroffene für eine bestimmte Zeit das Handeln erschwert.
Darüber hinaus werden kognitive oder bildungstechnische Barrieren häufig nicht beachtet. In Deutschland benötigen knapp sechs Millionen Menschen einfache Sprache, um Texte verstehen zu können. Das liegt bei manchen an tatsächlichen kognitiven Einschränkungen, meist sind es allerdings schlicht mangelnde Deutschkenntnisse. Für diese Gruppen wird es beispielsweise nötig sein, bestimmte Texte im Sprachniveau B2 zu halten. Andere Barrieren können etwa Aufmerksamkeitsdefizite sein, die durch Krankheiten wie ADHS oder Depressionen ausgelöst werden.
Die Screenreader-Beispiele waren also tatsächlich nur die Oberfläche, an der ich gekratzt habe. Mit dem BFSG stellt der Gesetzgeber die B2C-Unternehmen und somit auch die Versicherungen vor eine anspruchsvolle Aufgabe.
Doch die Anforderungen des BFSG können auch eine Chance sein, die eigenen Außenauftritte noch einmal kritisch zu hinterfragen. Ein gut umgesetzter barrierefreier Außenauftritt trägt zur optimalen User Experience bei – und davon profitieren am Ende alle Nutzer.
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