Eine Schätzfrage: Was kostete die Desinfektion eines Fahrzeugs zu Coronazeiten in einer Kfz-Werkstatt, und was ist dafür angemessen? Um dies zu beurteilen, muss man vielleicht ungefähr abschätzen können, wie viele Arbeitsschritte für eine solche Desinfektion erforderlich sind, in welchem Umfang das Auto desinfiziert werden muss (nur die Armaturen oder auch die Sitze und der Bodenbereich?) und ob Spezialmittel verwendet werden, zum Beispiel um empfindliche Oberflächen zu schonen. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes legt nahe, dass auch Unfallgeschädigte über solche Kosten informiert sein sollten. Andernfalls riskieren sie, auf einen Teil der Werkstattkosten sitzenzubleiben – selbst wenn sie den Unfall nicht selbst verursacht haben, sondern die Gegenseite verantwortlich ist.

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160 Euro sind für zwei Desinfektionen zu hoch

Im konkreten Rechtsstreit hatte eine Frau gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung eines Unfallverursachers geklagt. Ihr PKW war im August 2020 bei einem Autounfall beschädigt worden, wobei die Gegenseite voll haftete: Die Klägerin war unverschuldet in den Unfall hineingeraten. Doch als sie die Werkstattrechnung beim Kfz-Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers einreichte, wollte dieser die Kosten für eine Fahrzeugdesinfektion nicht voll übernehmen. Das Argument: Die Kosten für Corona-Desinfektionsmaßnahmen vor und nach der Reparatur seien unangemessen hoch. Die Werkstatt stellte für Corona-Schutzmaßnahmen insgesamt 157,99 € brutto in Rechnung. Während das Amtsgericht Hamburg-Harburg noch entschieden hatte, dass der Versicherer voll zahlen muss, hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass der Versicherer nur 33 Euro nebst Zinsen erstatten muss.

Der Sechste Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bestätigte das Urteil der Vorinstanz. Demnach hätte die Frau die Kosten der Desinfektion auf ihre Plausibilität hin überprüfen müssen. „Bei einer Plausibilitätskontrolle hätte sich einem wirtschaftlich denkenden Geschädigten aufdrängen müssen, dass die von der Werkstatt in Rechnung gestellten Kosten in Höhe von 157,99 € brutto deutlich überhöht seien“, argumentierten die Richterinnen und Richter. Das Desinfizieren der Flächen dauere bloß fünf Minuten und setze keine Sonderkenntnisse oder besonderen Fähigkeiten voraus. An Materialien bräuchte es außerdem nur das Desinfektionsmittel, Wischtücher, Einmalhandschuhe und Schutzmasken. Zusätzlich hob der BGH hervor, dass die Arbeit von einer nicht qualifizierten Hilfskraft ausgeführt werden könne und nur ein entsprechender Arbeitslohn zu veranschlagen sei.

Für den Geschädigten bestünden im Fall von Desinfektionskosten aufgrund der Nähe zum durchschnittlichen Erfahrungswissen keine besonderen Schwierigkeiten, eine Überhöhung der Kosten im Rahmen der Plausibilitätskontrolle festzustellen, argumentierte der BGH. Grundsätzlich könne ein Geschädigter nach § 249 Abs. 2 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nur den Ersatz der Aufwendungen verlangen, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen.

BGH und Vorinstanz urteilen gegen Sachverständigengutachten - anhand von Alltagswissen

Besondere Pointe: Die geschädigte BMW-Fahrerin hatte vor der Reparatur ein außergerichtliches Sachverständigengutachten eingeholt, das 136,40 € netto für Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus auswies. Dieser Betrag setzte sich aus zweimal 53,20 € für "Covid-Maßnahme vor und nach der Reparatur" sowie je 15 € für "Schutzmaterial vor und nach der Reparatur" zusammen. Der Bundesgerichtshof stellte klar, dass die Klägerin nicht auf diese Schätzung des Sachverständigen hätte vertrauen dürfen, da sie der eigenen laienhaften Alltagserfahrung widersprachen.

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Das Berufungsgericht hatte für die eigene Schätzung der niedrigen Kosten kein solches Sachverständigengutachten vorweisen können: Die urteilenden Richter hatten quasi die Kosten anhand ihres eigenen Erfahrungswissens geschätzt. „Da es sich hierbei um Kosten handelt, mit denen ein Erwachsener im Zuge der Pandemie üblicherweise im Alltag konfrontiert war, die also nicht nur bei Kfz-Werkstätten anfielen, konnte das Berufungsgericht deren Höhe selbst schätzen und musste hierzu kein Sachverständigengutachten einholen“, betonte nun der BGH. Dass die Frau das Gutachten gerade deshalb eingeholt hatte, um angemessene Kosten erstattet zu bekommen, spielte für das wenig verbraucherfreundliche Urteil folglich keine Rolle. Rund 125 Euro muss die Frau nun selbst an die Werkstatt zahlen.