Es ließ die Branche aufhorchen, als sich die ALH Gruppe vor rund 18 Monaten zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloss: Der Versicherer kündigte an, den konzerneigenen Ausschließlichkeitsvertrieb in Mehrfachagenturen (MFA) zu überführen. Damit dürfen die angeschlossenen Vermittlerinnen und Vermittler auch Verträge anderer Versicherer anbieten, zum Beispiel über Ventillösungen mit Maklern. Schneidet sich der Versicherer damit nicht ins eigene Fleisch? Animiert die ALH die angeschlossenen Agenturen nicht sogar dazu, bisherige Verträge zu anderen Versicherern umzudecken?

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"Damit verliert der AO-Agent seine gesamte Kundenbindung"

Warum sich die ALH Gruppe dazu entschloss, ihre Agenturen nicht mehr so stark zu binden und Agenturen freizugeben, erklärt nun Vertriebschef Frank Kettnaker in einem Interview mit finanzwelt.de. Und begründet dies indirekt auch damit, dass man mit dem Ergebnis der Agenturen nicht mehr ganz zufrieden war. „Der Ausgangspunkt war, dass wir in der AO sinkende Bestände und ein rückläufiges Neugeschäft festgestellt haben, obwohl die ALH Gruppe insgesamt gewachsen ist. Da muss man sich fragen: Wo liegt das Problem? Warum wächst das Geschäft bei freien Maklern, aber nicht in der AO?“, so Kettnaker.

Aus dem Statement lässt sich entnehmen, dass sich das Maklergeschäft zu der Zeit erfolgreicher entwickelt hat als das der Ausschließlichkeit. Dabei ist die Alte Leipziger/Hallesche ein Versicherer, der bereits seit längerer Zeit stark auf Kooperationen mit Maklern setzt. Doch diese Makler stehen auch in Konkurrenz zur Ausschließlichkeit, wie Kettnaker im Folgenden verdeutlicht: Sie haben den Vorteil, eine größere Produktpalette anbieten zu können und zu dürfen. Denn der Versicherungsvertreter droht schon seinen Kundenbestand zu verlieren, wenn der Kunde bzw. die Kundin mit nur einem Produkt unzufrieden ist.

Wo das Problem des gebundenen Vertreters liegt, verdeutlicht Kettnaker am Beispiel der Wohngebäudeversicherung. Das Unternehmen habe richtige betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen müssen, die sich für die AO aber in manchen Bereichen als herausfordernd herausgestellt hätten, erklärt er. Denn wie andere Versicherer auch, musste die Alte Leipziger in der Wohngebäudeversicherung die Beiträge nach oben anpassen, nachdem mehrere Unwetterkatastrophen hohe Schäden verursacht hatten. Manche Versicherer verzichten hingegen darauf: und nehmen unter Umständen sogar versicherungstechnische Verluste in Kauf, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben. Schon wenn ein Kunde bzw. eine Kundin nur mit einem einzigen Vertrag unzufrieden ist, droht der Vertreter ihn zu verlieren, wie Kettnaker erläutert:

Der AO-Agent kann seinen Kunden per Definition ausschließlich Produkte der ALH Gruppe anbieten. Wenn wir also einzelne Produkte wie die Wohngebäudeversicherung anpassen, sanieren und die Prämien erhöhen, dann sieht sich der Kunde möglicherweise nach einem anderen Versicherungsschutz um. Wo tut er das? Beim Makler! Der sagt: ‚Ich kann dir hier ein anderes Produkt anbieten, aber du unterschreibst mir bitte ein Maklermandat für alle Verträge.‘ Damit verliert der AO-Agent nicht nur den Wohngebäudevertrag, sondern die gesamte Kundenverbindung an den Makler“, so Kettnaker.

Hier sollten die Agenturen mehr Alternativen in die Hand bekommen, um sich besser gegen solche Abwanderungen wehren zu können. „Natürlich bestand grundsätzlich das Risiko, dass die Agenturen unsere gesamten Bestände umdecken. Deswegen habe ich dieser Transformation den Titel ‚Vom Vertriebswege-Mix zu einer Vertrauensorganisation‘ gegeben. Denn viele unserer bisherigen Generalagenten sind bereits in dritter Generation bei uns“, erklärt Kettnaker. Doch die Frage, ob man mit dem Öffnen der Anbieter- und Produktpalette die Loyalität der langjährigen Vertreter verliere, könne zum jetzigen Zeitpunkt mit „nein“ beantwortet werden, berichtet der Vorstand. Folglich fanden derartige Umdeckungen im großen Stil bisher nicht statt.

Vertreter müssen umgeschult und Bestände überführt werden

Damit die bisherigen Vertreter in ihre neue Rolle finden, mussten sie entsprechend umgeschult und dazu befähigt werden, als freie Mehrfachagenten ein breites Spektrum an Leistungen anzubieten, berichtet Kettnaker weiter. Hierfür habe man eine Kooperation mit dem Maklerbund VFM gestartet. „Seitdem können sie bestimmte Produkte auch bei anderen Anbietern eindecken, ohne den Kunden zu verlieren. Und wir verlieren nicht den gesamten Bestand. Wenn die Vertrauensorganisation stimmt, dann ist es ein Win-Win-Prinzip“, sagt der Vorstand.

Die Notwendigkeit für Umschulungen sei auch der Grund, weshalb in den bisherigen eineinhalb Jahren nur sechs von zehn Agenturen zu Mehrfachagenturen überführt worden seien. Zudem müssten die Bestände in ein neues Verwaltungssystem überführt werden. Bis zum Ende des Jahres wolle man 90 Prozent der Agenturen transformieren, die restlichen zehn Prozent sollen weiterhin als Ausschließlichkeitsagenten tätig sein - auch, weil viele kurz vor dem Renteneintritt stehen würden. Rund 190 Agenturen mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seien dann als Mehrfachagenten tätig. Kettnaker berichtet, dass auch andere Versicherer großes Interesse an dem eingeschlagenen Weg zeigen würden - die ALH Gruppe sei hier ‚First Mover‘.

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Gleichwohl bedeutet die neue Rolle als Mehrfachagent nicht, dass die früheren Vertreter nun eine unbegrenzte Produktauswahl haben und in das Lager der Versicherungsmakler wechseln. Versicherungsmakler stehen nach dem sogenannten Sachverwalterurteil des Bundesgerichtshofs im Lager des Kunden und vertreten dessen Interesse, sie sind auch ihm gegenüber verpflichtet. Dem entgegen bleiben Mehrfachagenten den Versicherern gegenüber verpflichtet, deren Produkte sie vertreiben. Der Versicherer steht auch in der Haftung, wenn Mehrfachagenten ein Beratungsfehler unterläuft. Somit sind die Mehrfachagenten gegenüber der ALH Gruppe auch weiterhin zur Loyalität verpflichtet.