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Amtsgericht (AG) Nordhausen, Landgericht (LG) Mühlhausen, Bundesgerichtshof (BGH) – man muss schon zwei Mal hinsehen, wenn man liest, über was am 12.03.2024 beim Bundesgerichtshof geurteilt wurde. Denn gestritten wurde um Kosten für ein Gutachten – und eigentlich hatte der Versicherer auch fast alle Kosten dieses Gutachtens beglichen. Bis auf eine Position, die sich „Zuschlag Schutzmaßnahme Corona“ nannte. Die Kosten dieses Zuschlags: 20 Euro.

Erklären freilich lässt sich dies mit der Bedeutung, die dem Urteil zukommt. Ging es doch um das Werkstattrisiko – und damit um ein fundamentales Prinzip der Rechtsprechung zur Kfz-Haftpflicht. Der Bundesgerichtshof weitete dieses Prinzip nun auch auf Sachverständigenkosten aus.

Der Unfall und die umstrittene Corona-Pauschale

Wie kam es zu diesem Prozessmarathon, bei dem es letztlich um die Rechtmäßigkeit einer 20-Euro-Pauschale ging?

Ein Verkehrsunfall im März 2021 bildet den Ausgangspunkt dieses Rechtsstreits. Der Pkw eines Geschädigten wurde durch einen Versicherungsnehmer der Beklagten beschädigt. In der Folge beauftragte der Geschädigte ein Sachverständigenbüro mit der Begutachtung des Schadens.

Dieses Büro, geführt von der Klägerin, stellte der Versicherung die Kosten für das Gutachten in Rechnung, einschließlich eines „Zuschlags Schutzmaßnahme Corona“ in Höhe von 20 Euro. Die Beklagte, eine Haftpflichtversicherung, erstattete die Gutachtenkosten – bis auf die 20 Euro, die sie als unzulässig ablehnte. Daraufhin zog die Klägerin vor Gericht, um diesen Betrag einzufordern.

Ein Prozess, der Grundsatzfragen aufwirft

Der Fall schien zunächst eine einfache Auseinandersetzung über eine Kleinstsumme zu sein, doch schnell wurde klar, dass hier Grundsatzfragen des Schadensersatzrechts auf dem Spiel standen. Nachdem sowohl das Amtsgericht (Urteil vom 05.01.2022 - Az. 26 C 357/21) als auch das Landgericht (Urteil vom 07.09.2022 - Az. 1 S 12/22) die Klage abgewiesen hatten, ließ das Berufungsgericht die Revision zum Bundesgerichtshof zu. Die zentrale Frage: Sind solche Nebenkosten, die durch pandemiebedingte Schutzmaßnahmen entstehen, als notwendiger Schadensaufwand nach Paragraf 249 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erstattungsfähig?

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In seinem Urteil vom 12.03. 2024 (Az. VI ZR 280/22) stellte der Bundesgerichtshof nun klar: „Das Werkstattrisiko verbleibt […] im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger beim Schädiger.“ Diese Grundregel, wonach der Unfallverursacher auch für überhöhte Reparaturkosten haftet, gelte nun auch für überhöhte Kosten eines Sachverständigen, sofern dem Geschädigten kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden vorzuwerfen ist. Der Geschädigte habe ein berechtigtes Interesse, sich auf die Expertise eines Sachverständigen zu verlassen, ohne dabei übermäßige Nachforschungen anstellen zu müssen, ob die angesetzten Kosten gerechtfertigt sind.

Der BGH stärkt die Position der Geschädigten

Auch führte der BGH aus: „Der Geschädigte ist nach schadensrechtlichen Grundsätzen in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung frei.“ Dies bedeutet, dass der Geschädigte den Weg einschlagen darf, der aus seiner Sicht am besten seinen Interessen entspricht. Ein Gutachter seiner Wahl darf beauftragt werden, und selbst wenn dessen Rechnung überhöht erscheint, bleibt das Risiko bei demjenigen, der den Schaden verursacht hat – dem Schädiger und somit dessen Versicherung. Diese Ausweitung des Werkstattrisikos auf Sachverständigenkosten hat weitreichende Folgen für die Versicherungswirtschaft und stärkt die Position der Geschädigten erheblich.

Schließlich hob der Bundesgerichtshof auch hervor: „Ersatzfähig sind […] auch diejenigen Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten […] unangemessen, mithin nicht zur Herstellung erforderlich im Sinne des Paragraf 249 Abs. 2 Satz 1 BGB sind.“ Mit diesem Urteil wird deutlich, dass selbst dann, wenn einzelne Positionen einer Rechnung nicht objektiv notwendig erscheinen, die Versicherung sie zu tragen hat, solange sie für den Geschädigten nicht erkennbar überhöht sind.

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In diesem speziellen Fall ging es ebenfalls darum, ob die Pauschale für Corona-Schutzmaßnahmen gerechtfertigt war. Der BGH entschied, dass diese Maßnahmen in der Pandemiezeit als notwendig angesehen werden konnten, um die Gesundheit aller Beteiligten zu schützen – ein berechtigtes Anliegen des Sachverständigen und seines Auftraggebers. Wenn man sich dies vor Augen führt, sind die Kosten nicht mal als überhöhte Kosten anzusehen. Doch auch, wenn sie es wären, müsste die Haftpflichtversicherung gemäß den Urteilsgründen leisten.

Ein Urteil mit weitreichenden Folgen

So endete ein Rechtsstreit, der sich über mehrere Instanzen zog und mit einem scheinbar geringen Streitwert begann, mit einem Urteil, das weit über den konkreten Fall hinaus Bedeutung hat. Der Bundesgerichtshof setzte ein klares Signal: Versicherungen müssen auch für überhöhte Sachverständigenkosten aufkommen, wenn diese dem Geschädigten nicht anzulasten sind. Damit wurde die Haftung der Versicherer im Schadensfall weiter präzisiert und gleichzeitig der Schutz der Geschädigten gestärkt. Der Streit um die 20 Euro wird somit als ein Fall in Erinnerung bleiben, der die Prinzipien des Werkstattrisikos auf neuer Ebene präzisiert hat.

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