Der Dieselskandal hat nicht nur die Automobilbranche erschüttert, sondern hat auch massive Auswirkungen auf die Rechtsschutzversicherung. Denn der Skandal hat eine Welle von Klagen ausgelöst. Allein in den Jahren 2018 und 2019 verzeichneten die Rechtsschutzversicherer Tausende neuer Verfahren im Zusammenhang mit dem Dieselskandal – eine Entwicklung, die die Versicherer vor immense finanzielle Herausforderungen stellte. Laut dem Branchenverband GDV ist „Dieselgate“ einer der teuersten Fälle in der Geschichte der Rechtsschutzversicherung – die Schadenzahlen brechen alle Rekorde (Versicherungsbote berichtete).

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Aufgrund der Kostenexplosion versuchten Rechtsschutzversicherer auch wiederholt, die Deckung bestimmter Fälle zu verweigern. Dies dürfte in Zukunft schwieriger sein – ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) hat nun die Rechte der Versicherungsnehmer wesentlich gestärkt.

Der Fall: Vom Kauf zum Rechtsstreit

Worum ging es vor Gericht? Im Jahr 2020 kaufte der Kläger ein Wohnmobil der Marke Fiat Hymer. Doch die Freude über den neuen Besitz verflog schnell, als er erfuhr, dass das Fahrzeug möglicherweise mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet war. Aus diesem Grunde beschloss der Mann, das Unternehmen auf Schadensersatz zu verklagen.

Bevor er jedoch den Klageweg beschritt, wollte er sicherstellen, dass er finanziell abgesichert war. Daher beantragte er Deckungsschutz bei seiner Rechtsschutzversicherung. Die Versicherung lehnte den Antrag jedoch ab. Sie argumentierte, dass die rechtliche Lage unklar sei und die Klage nur geringe Erfolgsaussichten habe.

Zusätzlich warf die Versicherung dem Kläger vor, seine Obliegenheit zur Kostenminimierung zu verletzen. Aus ihrer Sicht hätte der Kläger zunächst ein unabhängiges Gutachten einholen oder eine außergerichtliche Einigung versuchen müssen, bevor er den Klageweg beschreitet. Der direkte Gang vor Gericht, so die Versicherung, verursache unnötige Kosten und widerspreche so den vertraglichen Pflichten des Klägers.

Der Weg durch die Instanzen

Trotz dieser Ablehnung entschloss sich der Kläger, seine Klage gegen den Fahrzeughersteller voranzutreiben. Parallel dazu verklagte er auch seine Rechtsschutzversicherung, um den Deckungsschutz durchzusetzen. Der Fall wurde 2021 vor dem Landgericht Dortmund (Az. 2 O 133/21) verhandelt, doch das Gericht folgte der Argumentation der Versicherung und wies die Klage ab. Die Erfolgsaussichten der Schadensersatzklage, so das Gericht, seien zum Zeitpunkt des Antrags tatsächlich nicht ausreichend gewesen.

Doch der Kläger gab nicht auf und legte Berufung ein. Das Oberlandesgericht Hamm (Az. I-20 U 61/22) befasste sich 2022 mit dem Fall und entschied zugunsten des Klägers. Das Gericht befand, dass die Rechtsschutzversicherung Deckungsschutz gewähren müsse, da die rechtliche Lage sich durch eine bevorstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ändern könnte.

Im März 2023 kam es schließlich zur entscheidenden Wende: Der EuGH entschied, dass Abschalteinrichtungen in Fahrzeugen grundsätzlich unzulässig sind (Urteil in der Rechtssache C‑100/21). Diese Entscheidung stärkte die Position des Klägers erheblich und machte seine Klage deutlich erfolgversprechender.

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Doch die Rechtsschutzversicherung akzeptierte das Urteil des Oberlandesgerichts dennoch nicht und legte Revision beim Bundesgerichtshof ein. Denn für sie war nicht die aktuelle Erfolgsaussicht ausschlaggebend, sondern die Situation bei Beantragung der Deckung 2020. Der BGH stand nun vor der Aufgabe, zu klären, ob die Versicherung zur Kostenübernahme verpflichtet war, obwohl sie die Erfolgsaussichten der Klage zum Zeitpunkt des Antrags als ungewiss eingestuft hatte.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof (BGH) urteilte, dass die Rechtsschutzversicherung die Kosten für die Klage des Klägers übernehmen muss (Az. IV ZR 140/23). Maßgeblich für diese Entscheidung war der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits zugunsten des Klägers entschieden, was die Erfolgsaussichten der Klage erheblich verbesserte. Der BGH stellte klar: „Erfolgt im Deckungsschutzverfahren des Versicherungsnehmers einer Rechtsschutzversicherung nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu seinen Gunsten, sind für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten der Klage im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich.“ Diese nachträgliche Klärung der Rechtslage durch den EuGH war ausschlaggebend für den Ausgang des Verfahrens.

Relevanz des Zeitpunkts der letzten Verhandlung

Ein zentraler Punkt des Urteils betrifft die Bedeutung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Bewertung der Erfolgsaussichten einer Klage. Der BGH betonte, dass für die Entscheidung über den Deckungsschutz der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht relevant ist. Diese Feststellung unterstreicht, dass spätere höchstrichterliche Entscheidungen, die nach dem Antrag auf Deckungsschutz getroffen werden, dennoch relevant sind, wenn sie die Erfolgsaussichten der Klage deutlich verbessern. In seinem Urteil stellte der BGH klar: „Die Erfolgsaussichten einer Klage sind im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich zu beurteilen.“

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Vertrauen in die höchstrichterliche Rechtsprechung

Der BGH stellte weiter fest, dass Versicherungsnehmer darauf vertrauen dürfen, dass ihnen der Versicherer in unklaren Rechtslagen Deckungsschutz gewährt. Insbesondere dann, wenn eine spätere höchstrichterliche Entscheidung die Erfolgsaussichten der Klage verbessert, darf der Versicherungsnehmer nicht für die ursprüngliche Unsicherheit in der Rechtslage haftbar gemacht werden. Der BGH betonte: „Der Versicherungsnehmer darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass ihm der Versicherer in einer für ihn unklaren Rechtslage Deckungsschutz gewährt, insbesondere wenn eine höchstrichterliche Entscheidung die Erfolgsaussichten der Klage gestärkt hat.“

Keine Obliegenheitsverletzung durch den Kläger

Der BGH entschied außerdem, dass der Kläger nicht gegen seine Obliegenheit zur Kostenminimierung verstoßen habe. Der Versicherungsnehmer hat zwar die Pflicht, unnötige Kosten zu vermeiden, doch in diesem Fall urteilte der BGH, dass der Kläger in einer rechtlich unklaren Situation nicht verpflichtet war, seine Klage zurückzuziehen oder zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen wie die Einholung eines Gutachtens zu ergreifen. Die spätere Klärung durch den EuGH bestätigte die Angemessenheit seines Vorgehens. „Eine Obliegenheitsverletzung liegt nicht vor, wenn der Versicherungsnehmer in einer unklaren Rechtslage den Klageweg beschreitet, der sich später durch eine höchstrichterliche Entscheidung als richtig herausstellt“, so der BGH.

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Fazit: Ein starkes Signal für Versicherte

Das Urteil des BGH stärkt die Rechte der Versicherungsnehmer in mehrfacher Hinsicht:

  • Erstens stellt das Urteil klar, dass Versicherungsnehmer darauf vertrauen dürfen, dass ihre Versicherung in unklaren Rechtslagen Deckungsschutz gewährt. Selbst wenn die Erfolgsaussichten einer Klage anfänglich fraglich erscheinen, müssen Versicherungen die Kosten übernehmen, wenn spätere Entwicklungen oder Urteile die Erfolgsaussichten verbessern. Dies gibt den Versicherten mehr Sicherheit und ermutigt sie, ihre Rechte ohne Angst vor hohen Kosten zu verteidigen.
  • Zweitens stärkt das Urteil die Position der Versicherten gegenüber Versicherungen, indem es deutlich macht, dass eine vermeintliche Obliegenheitsverletzung nicht automatisch zum Verlust des Deckungsschutzes führt. Der BGH hat betont, dass Versicherte nicht gezwungen sind, in unsicheren rechtlichen Situationen unnötige Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wenn eine spätere Klärung durch höchstrichterliche Rechtsprechung ihre Position bestätigt. Dies verhindert, dass Versicherungen ihre Kunden für Entscheidungen bestrafen, die sich im Nachhinein als richtig herausstellen. Das Urteil ist auf der Webseite des Bundesgerichtshofs verfügbar.
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