Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übt erneut scharfe Kritik an den Kosten von Lebensversicherern, nachdem bereits eine Marktanalyse aus dem Jahr 2018 dazu geführt hatte, dass die aufsichtsrechtlichen Vorgaben teilweise verschärft wurden. Doch die jüngsten Untersuchungen würden zeigen, dass die Probleme weiterhin bestehen. „Lebensversicherungen sollen den Absicherungsbedürfnissen und Renditeerwartungen der Kundinnen und Kunden gerecht werden. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber leider nicht“, zitiert das Handelsblatt Chefaufseherin Julia Wiens, die beim „Strategiemeeting Lebensversicherung“ des Wirtschaftsmagazins sprach. Die Aufsicht habe die Produkte von 13 Lebensversicherern unter die Lupe genommen, die ein Viertel des Marktes abbilden würden. „Was wir da bislang herausgefunden haben, gefällt uns überhaupt nicht“, so Wiens.

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Wohlverhaltensregeln: Wirken sie oder nicht?

Konkret hatte die BaFin im Mai letzten Jahres ein Merkblatt herausgegeben, um die Lebensversicherer auf Wohlverhaltensregeln bei kapitalbildenden Produkten zu verpflichten. Ein wichtiger Grundsatz: Der Kundennutzen der Produkte soll ausreichend berücksichtigt werden. Hierfür sollten die Anbieter bereits bei der Zulassung von Produkten einen Zielmarkt identifizieren, auf dessen Bedürfnisse hin sie das Produkt zuschneiden und kalkulieren. Die Vorgaben hierfür blieben recht unkonkret. Allerdings sollen die Versicherer auch prüfen, ob die Angehörigen des Zielmarktes nicht nur eine positive Rendite nach Kosten, sondern auch eine positive Rendite nach Kosten und Inflation anstreben. Als Orientierung wurde das mittelfristige Inflationsziel der Europäischen Zentralbank genannt. Das bedeutet eine Rendite nach Kosten von mindestens zwei Prozent.

Ob und wie das Merkblatt wirkt, bleibt aus Sicht der BaFin unklar, denn ihre Aussagen dazu sind teils widersprüchlich. In einem am Dienstag veröffentlichten Fachbeitrag heißt es: „Die Versicherungsaufsicht hat bereits nennenswerte Verbesserungen für die Kundinnen und Kunden erreicht: Einige Produkte, die keinen angemessenen Kundennutzen bieten, wurden vom Markt genommen. Darüber hinaus konnten Kostensenkungen im Bestand sowie rückwirkende Kompensationsmaßnahmen erzielt werden.“

Doch wenig später heißt es, die Analyse der Produkte von 13 aktuell untersuchten Lebensversicherern habe gezeigt, dass diese den Vorgaben des Merkblattes bisher nicht genügen. Ein angemessener Nutzen für den Zielmarkt sei bei vielen Produkten nicht festzustellen. Julia Wiens beendete ihre Rede auf dem Handelsblatt Strategiemeeting daher mit einer eindringlichen Mahnung an die anwesenden Versicherungsvorstände: „Sorgen Sie für einen angemessenen Kundennutzen!“ Sie betonte zwar, dass unter den untersuchten Anbietern das Viertel des Marktes mit den teuersten Produkten vertreten sei. Gleichzeitig wies Wiens darauf hin, dass es sich um wichtige Produktgeber handelt, ohne jedoch konkret zu nennen, welche Versicherer betroffen sind. Sie stellte zudem klar, dass in Zukunft auch weitere Anbieter untersucht werden.

Welche Missstände bemängelt die BaFin konkret?

  • Hohe Stornozahlen bei langen Laufzeiten: Der Versichererverband GDV argumentiert regelmäßig, dass über das Jahr gerechnet vergleichsweise wenige Lebensversicherungen vorzeitig gekündigt werden. Die BaFin bewertet die Zahlen jedoch anders. So betrage die jährliche Stornoquote der Versicherer 3,14 Prozent. Bei einer Ansparphase von 40 Jahren würde dies bedeuten, dass sich über 70 Prozent der Kundinnen und Kunden bereits vorzeitig von ihren Verträgen getrennt haben – also knapp zwei Drittel. Dabei berücksichtigt die BaFin allerdings eine außergewöhnlich lange Laufzeit. Häufiger sind Vertragslaufzeiten von 15 oder 30 Jahren. Bei den BaFin-Prüfungen fielen außerdem die Stornoquoten einiger Lebensversicherer auf. In einigen Fällen hatte die Hälfte der Kundinnen und Kunden ihren Vertrag bereits innerhalb der ersten Vertragsjahre beendet.
  • Bei vorzeitiger Vertragskündigung lohnt sich der Vertrag oft kaum: Da viele Menschen ihre Lebensversicherung vorzeitig kündigen, hat die BaFin die Lebensversicherer verpflichtet, bei der Bewertung des Kundennutzens auch das Storno zu beachten. Doch wer den Vertrag vorzeitig beende, werde mit überproportional hohen Kosten belastet, klagt die BaFin. Ein Grund sei, dass die Versicherer die Kosten „stark frontlastig“ erheben. Zu Beginn des Vertrags wird ein großer Teil der Beiträge zur Deckung der Kosten einbehalten, auch um Abschlusskosten und Provisionen zu vergüten. Diese einbehaltenen Beträge fließen nicht in das Vertragsguthaben und tragen somit nicht zur Rendite bei. Erschwerend komme hinzu, dass es üblich sei, dass ein Teil der Kosten als Prozentsatz der gesamten Beitragssumme berechnet werde. Das werde zwar durch eine niedrigere Kostenbelastung in späteren Vertragsjahren wieder ausgeglichen. Kommt es aber zur vorzeitigen Vertragsbeendigung, gebe es diesen Ausgleich nicht, was den finanziellen Nachteil verschärfe.
  • Hohe Effektivkosten von mehr als vier Prozent: Effektivkosten geben an, wie stark die gesamten Kosten einer Lebensversicherung die Rendite des Vertrages schmälern. Damit die Kundin oder der Kunde eine positive Rendite erzielt, müssen diese Kosten erst einmal verdient werden. Bei den Produkten mehrerer Unternehmen lagen diese Effektivkosten bei vier Prozent oder sogar deutlich höher. In ihrer Rede wird Julia Wiens gegenüber den Versicherervorständen sehr deutlich. Sie fragte: „Mal Hand aufs Herz: Welche Rendite erzielen die Fonds in Ihren Produkten? Oder anders gefragt: Würden Sie solche Produkte guten Freunden empfehlen?“
  • Kickback-Zahlungen: Haben diese überhaupt einen Kundennutzen?: Laut BaFin ist es nach wie vor gängige Praxis, dass Versicherer oder Vermittler bei fondsgebundenen Produkten von Fondsgesellschaften eine Vergütung erhalten, einfach weil sie in deren Fonds investieren. Diese Gelder werden nur teilweise an die Kundinnen und Kunden weitergegeben. Wiens kritisierte solche Zahlungen in ihrer Rede scharf: „Solche Praktiken, die einseitig zulasten der Kundinnen und Kunden gehen, sind nicht akzeptabel“, sagte sie. „Fehlt der angemessene Kundennutzen oder entspricht ein Produkt nicht den Bedürfnissen des Zielmarkts, ist das ein schwerwiegender Missstand.“ Da die Versicherer ohnehin eine Vertriebsprovision erhalten, seien die Rückvergütungen zusätzliche Kosten, die den Kundinnen und Kunden aufgebürdet werden.
  • Formale Mängel bei der Zulassung: Die Prüfungen der BaFin legten formale Mängel beim Produktfreigabeverfahren offen. Die Anbieter hatten Defizite bei den „Grundsätzen der Aufsicht und Lenkung“, das sind interne Leitlinien, die sie erstellen müssen, um die Anforderungen an das produktindividuelle Produktfreigabeverfahren zu definieren. Auch die Produktfreigabeverfahren selbst seien betroffen. So sei die Beschreibung des Zielmarkts vage gehalten. Eine nähere Auseinandersetzung mit den Merkmalen und Bedürfnissen der Angehörigen des Zielmarkts war bei diesen Anbietern kaum erkennbar. Die BaFin will den festgestellten formalen Mängeln nachgehen.

Sowohl der Fachartikel als auch die Rede von Julia Wiens wurden auf der Webseite der BaFin veröffentlicht. Wiens hob noch einmal die Tragweite der beobachteten Missstände hervor. Sie sagte: „Ich möchte es klar sagen: Solche Praktiken, die einseitig zu Lasten der Kundinnen und Kunden gehen, sind nicht akzeptabel. Wenn ein angemessener Kundennutzen fehlt, wenn ein Produkt also nicht den Bedürfnissen des Zielmarkts entspricht, dann ist das ein Missstand, wie er im Buche steht. Genauer gesagt im Versicherungsaufsichtsgesetz“.

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