Ein tragischer Verkehrsunfall im Jahr 1989 veränderte das Leben eines damals jungen Mannes für immer. Durch den Unfall erlitt er eine Querschnittslähmung und war seither auf einen Rollstuhl angewiesen, um seinen Alltag zu bewältigen. Doch das Schicksal schlug erneut zu: Mit den Jahren entwickelte sich bei ihm zusätzlich eine schmerzhafte Arthrose im Daumensattelgelenk, die das Greifen der Rollstuhlreifen zur Qual machte. Um weiterhin mobil zu bleiben und seinen Alltag selbstständig bestreiten zu können, stellte er bei seiner Krankenkasse den Antrag auf ein schnelles, elektrisch betriebenes Handkurbelrollstuhlzuggerät.

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Dieses Gerät, das an den Rollstuhl befestigt wird, ermöglicht Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h und ist darauf ausgelegt, den Nutzer auch bei minimaler Restkraft erheblich zu entlasten. Doch die Krankenkasse verweigerte die Kostenübernahme. Was folgte, war ein langwieriger Rechtsstreit, der schließlich vor dem Bundessozialgericht endete.

Ablehnung der Krankenkasse folgte der Einschätzung des Medizinischen Dienstes

Der Antrag, den der Kläger 2017 bei der AOK Niedersachsen einreichte, war genau durchdacht. Das motorunterstützte Handkurbelrollstuhlzuggerät sollte ihm ermöglichen, trotz seiner Arthrose weiterhin selbstständig seine Alltagswege zu bewältigen. Doch die Krankenkasse lehnte den Antrag ab.

Hier ist es wichtig zu verstehen, welche Art von Unterstützung der Kläger benötigte. Es gibt unterschiedliche Antriebe für Rollstühle, die jeweils verschiedene Formen der Mobilitätsunterstützung bieten:

  • Restkraftunterstützender Antrieb: Dieser Antrieb, den die Krankenkasse als ausreichend ansah, verstärkt die Kraft, die der Nutzer beim Greifen und Schieben der Rollstuhlreifen aufbringt. Das bedeutet, dass der Rollstuhlfahrer weiterhin selbst aktiv die Räder bewegen muss, jedoch mit weniger Kraftaufwand, da der Antrieb die vorhandene Muskelkraft verstärkt. Dies setzt jedoch voraus, dass der Nutzer noch über ausreichende Handkraft verfügt, um die Räder zu bewegen.
  • Motorunterstütztes Handkurbelrollstuhlzuggerät: Im Gegensatz dazu bietet das vom Kläger beantragte Zuggerät eine erheblich stärkere Unterstützung. Es handelt sich um ein eigenständiges Gerät, das vor den Rollstuhl gespannt wird und durch eine elektrische Motorunterstützung auch bei minimaler Kraftanstrengung des Nutzers eine Fortbewegung ermöglicht. Der Nutzer bedient dieses Gerät über eine Handkurbel, wobei der Motor die Hauptarbeit übernimmt. Dadurch kann der Rollstuhlfahrer auch längere Strecken oder steilere Anstiege bewältigen, ohne starke körperliche Anstrengung.

Die Krankenkasse stützte ihre Ablehnung auf eine Einschätzung des Medizinischen Dienstes – dieser war der Meinung, der restkraftunterstützende Antrieb für die Rollstuhlreifen reiche aus, um den Nahbereich des Klägers zu erschließen. Damit wollte sich der behinderte Mann aber nicht zufrieden geben – und reichte, nach der Ablehnung der AOK, beim Sozialgericht Hildesheim Klage ein.

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Der Klageweg durch die Instanzen

Das Sozialgericht Hildesheim allerdings schlug sich zunächst auf die Seite der Krankenkasse (Az.: S 56 KR 152/18). Der Mann nahm aber auch dieses Urteil in erster Instanz nicht hin – und ging in Berufung vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen. Vor dem Landessozialgericht wendetet sich das Blatt: Ein neuer Sachverständiger wurde beauftragt; dieser stellte fest, dass das beantragte Zuggerät nicht nur die Mobilität des Klägers im Nahbereich verbessern, sondern auch eine Verschlimmerung der Arthrose verhindern könne. Mit dieser Einschätzung wurde die Entscheidung des Sozialgerichts aufgehoben: Die AOK wurde zur Bereitstellung des Zuggeräts verurteilt (Az.: L 4 KR 526/20). Das freilich wollte nun die Krankenkasse nicht hinnehmen –und legte Revision ein beim Bundessozialgericht.

Wie das Bundessozialgericht urteilte

Das Bundessozialgericht (Az.: B 3 KR 13/22 R) prüfte den Fall umfassend. Es stellte sich die zentrale Frage, ob das motorunterstützte Handkurbelrollstuhlzuggerät tatsächlich notwendig war, um die Grundbedürfnisse des Klägers zu erfüllen. Die AOK argumentierte, dass ein Gerät, das Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h erreicht, über das notwendige Maß hinausgehe und dass es günstigere Alternativen gebe, die ausreichend seien. Doch das Bundessozialgericht entschied zugunsten des Klägers und stellte klar, dass die Mobilität im Nahbereich unter Einsatz der eigenen Körperkraft ein schützenswertes Grundbedürfnis sei, das durch die Krankenkasse zu gewährleisten sei – folglich muss die AOK laut Urteil die Kosten für das Gerät als notwendiges Hilfsmittel zur Sicherung der Mobilität im Nahbereich übernehmen.

In seinen Urteilsgründen betonte das Gericht mehrere wesentliche Punkte:

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  1. Schmerzfreie Mobilität als Grundbedürfnis: Das Gericht erkannte an, dass der Kläger auf eine schmerzfreie Fortbewegung im Nahbereich angewiesen ist, um seine wesentlichen Versorgungs- und Gesundheitserhaltungswege zu bewältigen. „Die Versorgung mit einem Handkurbelrollstuhlzuggerät mit Motorunterstützung ist erforderlich, um eine schmerzfreie Erledigung der wesentlichen Versorgungs- und Gesunderhaltungswege zu ermöglichen“, so das Gericht wörtlich.
  2. Bedeutung der personalen Autonomie: Das Gericht hob hervor, dass das Bedürfnis, Alltagsverrichtungen unter Einsatz eigener Kräfte zu bewältigen, ein Ausdruck der personalen Autonomie ist, die von Paragraf 33 Abs. 1 des Fünften Sozialgesetzbuchs (SGB V) geschützt wird. „Das Bedürfnis, Alltagsverrichtungen unter Einsatz eigener Kräfte zu bewältigen, ist Ausdruck der von Paragraf 33 Abs. 1 (...) SGB V geschützten personalen Autonomie“, heißt es weiter.
  3. Unabhängigkeit von Geschwindigkeit und Reichweite: Das Bundessozialgericht stellte klar, dass die Geschwindigkeit und Reichweite des Hilfsmittels, das bis zu 25 km/h erreichen kann, nicht gegen die Notwendigkeit der Versorgung sprechen, solange keine zumutbare Alternative zur Erschließung des Nahbereichs besteht. „Die Reichweite und Geschwindigkeit der mit dem Hilfsmittel eröffneten Fortbewegung stehen der Versorgung durch die Krankenkasse nicht entgegen, sofern eine zumutbare Erschließung des Nahbereichs anders nicht möglich ist“, so die Richter.
  4. Teilhabe an den Bewegungsmöglichkeiten: Das Gericht betonte: „Versicherte haben Anspruch auf eine Teilhabe an den Bewegungsmöglichkeiten, die nicht in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigten Versicherten offenstehen.“

Fazit: Was das Urteil bedeutet

Dieses Urteil hat weitreichende Implikationen für die Versorgung von Versicherten mit Hilfsmitteln. Drei wesentliche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen:

  1. Rechtsanspruch auf angemessene Hilfsmittelversorgung: Versicherte haben einen klaren Anspruch auf Hilfsmittel, die ihre Grundbedürfnisse, wie die Mobilität im Nahbereich, sicherstellen, selbst wenn diese Hilfsmittel technisch fortgeschritten oder kostspielig sind. Krankenkassen müssen die individuelle Situation des Versicherten umfassend berücksichtigen.
  2. Stärkung der personalen Autonomie: Das Urteil unterstreicht die Bedeutung der personalen Autonomie bei der Versorgung mit Hilfsmitteln. Versicherte haben das Recht, ihre Alltagsverrichtungen so weit wie möglich selbstständig und unter Einsatz eigener Kräfte zu bewältigen, was einen zentralen Aspekt bei der Genehmigung von Hilfsmitteln darstellt.
  3. Einzelfallabhängige Entscheidungen: Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass dieses Urteil nicht automatisch auf alle ähnlichen Fälle übertragbar ist. Im vorliegenden Fall spielte die Verschlimmerung der Arthrose des Klägers eine entscheidende Rolle für die Entscheidung des Gerichts. Ohne diese zusätzliche gesundheitliche Belastung hätte das Urteil möglicherweise anders ausfallen können. Jede Antragsstellung sollte daher individuell geprüft und medizinisch fundiert begründet werden, um den spezifischen Bedürfnissen des Versicherten gerecht zu werden. Das Urteil ist auf der Webseite des Bundessozialgerichts verfügbar.
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