Gestern (am 9. September 2024) sorgte Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), mit einem Vorschlag in der Bild-Zeitung für Aufsehen. Gassen forderte, dass Patienten, die ihre Arzttermine unentschuldigt schwänzen, mit Strafzahlungen belegt werden sollen. Diese könnten bis zu 100 Euro betragen und sollten, so Gassens Idee, von den Krankenkassen übernommen werden. In der Schlagzeile hieß es plakativ: „Wer als Patient seinen Termin beim Arzt schwänzt, muss mit saftigen Bußgeldern rechnen.“

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Andreas Gassen ist bekannt für seine polemische Kritik an Patienten. 2019 warf er ihnen vor, die Gesundheitskarte „gnadenlos auszunutzen“ und beliebig viele Ärzte ohne Sanktionen aufzusuchen. Er schlug vor, Wahltarife einzuführen, bei denen Patienten, die sich auf einen koordinierenden Arzt beschränken, von günstigeren Tarifen profitieren, während diejenigen, die „jederzeit zu jedem Arzt“ wollen, mehr zahlen. Dies stieß auf heftige Kritik. GKV-Sprecher Florian Lanz warnte, das würde „durch die Hintertür Strafzahlungen für kranke Menschen“ einführen.

Gassen ging noch weiter, indem er die Überlastung der Notaufnahmen in Kliniken provokant durch einen Vergleich erklärte: Patienten würden am Wochenende nach einem Einkauf bei Ikea noch in die Notfallambulanz gehen, weil sie dort das „Rundum-sorglos-Paket“ erwarteten. Damit kritisierte er nicht nur die vermeintliche Anspruchshaltung der Patienten, sondern stellte deren Gesundheitsbewusstsein infrage. Diese Aussage, die eine bewusste Bagatellisierung von Notfällen unterstellt, sorgte für Empörung und verdeutlichte seine Neigung, Patienten für systemische Probleme verantwortlich zu machen. Mit seinem aktuellen Vorschlag, Strafzahlungen für unentschuldigte Arzttermine einzuführen, verfolgt Gassen erneut das Muster, strukturelle Defizite wie Fachkräftemangel und ineffiziente Terminvergabe auf die Patienten abzuwälzen. Dies könnte nicht nur den Patienten schaden, sondern langfristig sogar zu höheren Kosten im Gesundheitssystem führen – ein erstaunlich kurzsichtiger Ansatz.

Krankenkassen im Dauerstress: Noch mehr Kosten für ein angeschlagenes System?

Die Idee, dass Krankenkassen für die versäumten Termine der Versicherten zahlen sollen, scheint auf den ersten Blick eine pragmatische Lösung zu sein. Gassen hierzu: weil Praxen einen Ausfall-Termin nicht zwei Mal vergeben können, sei „eine von den Krankenkassen zu entrichtende Ausfallgebühr“ angemessen. Doch dieses Konzept lässt die bereits prekäre finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) außer Acht. Die GKV steht unter enormem Druck. Und wie Experten prognostizieren, könnten 2025 die Beitragssätze so stark steigen wie nie zuvor. Eine Erhöhung um bis zu 0,7 Prozentpunkte wird erwartet, was zur größten Beitragserhöhung der GKV in ihrer Geschichte führen könnte (Versicherungsbote berichtete).

Warum dieser massive Anstieg? Das Gesundheitssystem sieht sich mit steigenden Kosten durch den demografischen Wandel, höhere Ausgaben für medizinische Innovationen und den wachsenden Behandlungsbedarf konfrontiert. Die Krankenkassen versuchen bereits, diese finanziellen Lasten zu tragen, und Gassens Vorschlag würde sie zusätzlich belasten, ohne dass ein unmittelbarer gesundheitlicher Nutzen für die Patienten entsteht. Statt Geld in die Prävention oder bessere Versorgungsstrukturen zu investieren, würde es in ein System fließen, das lediglich Ausfallkosten deckt – eine ineffiziente Verwendung knapper Ressourcen.

Abrechnungsbetrug: Tür und Tor für Manipulationen?

Ein weiteres großes Problem bei der Umsetzung von Gassens Vorschlag wäre das Risiko von Abrechnungsbetrug. Bereits in der Vergangenheit gab es zahlreiche Fälle von Manipulationen im deutschen Gesundheitssystem, insbesondere im Zusammenhang mit dem Risikostrukturausgleich (RSA). Eine Studie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2017 dokumentierte, wie Ärzte und Krankenkassen falsche Diagnosen stellten, um höhere Zahlungen aus dem RSA zu erhalten (Versicherungsbote berichtete). Zwar wurde der RSA 2020 durch das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb (GKV-FKG) reformiert, aber das Potenzial für Manipulationen bleibt bestehen.

Mit der Einführung von Strafzahlungen für versäumte Termine würde ein weiteres Einfallstor für Betrug geschaffen. Praxen könnten Termine melden, die nie vereinbart wurden, oder behaupten, dass Patienten unentschuldigt fehlten, um zusätzliche Zahlungen zu erhalten. Das wäre schwer zu überprüfen und würde die Krankenkassen zusätzlich belasten, während betrügerische Akteure das System ausnutzen könnten.

Eine Sackgasse für Patienten: Strafzahlungen und Vertrauensverlust

Noch problematischer wird es, wenn die Strafzahlungen direkt von den Patienten getragen werden müssen. Das deutsche Gesundheitssystem basiert auf dem Solidaritätsprinzip – der Zugang zu Gesundheitsleistungen sollte unabhängig vom sozialen oder wirtschaftlichen Status möglich sein. Werden jedoch hohe Strafzahlungen für verpasste Termine eingeführt, trifft das vor allem sozial schwache und chronisch kranke Menschen, die oft aus unvorhersehbaren Gründen Termine absagen müssen.

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Diese Maßnahme könnte das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient schwer beschädigen. Patienten, die Angst vor hohen Strafgebühren haben, könnten zögern, Arzttermine zu vereinbaren oder notwendige Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen. Dies gefährdet die Prävention, eine der Grundpfeiler des Gesundheitssystems. Wenn Patienten ihre regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen oder Kontrollbesuche vermeiden, steigen die langfristigen Gesundheitskosten. Frühzeitig erkannte Krankheiten können oft kostengünstig und effizient behandelt werden, doch wenn Prävention vernachlässigt wird, drohen spätere, teurere Behandlungen – und das auf Kosten des gesamten Gesundheitssystems.

Die rechtliche Perspektive: Keine Leistung, keine Vergütung

Einige Arztpraxen erheben bereits Strafgebühren von bis zu 100 Euro für unentschuldigtes Nichterscheinen, meist basierend auf vertraglichen Vereinbarungen mit den Patienten. Eine rechtliche Überprüfung dieser Praxis steht jedoch noch aus, da es bislang keine einheitliche Rechtsprechung gibt. Kritiker argumentieren, dass solche Gebühren rechtlich problematisch sein könnten, wenn kein klarer Verdienstausfall nachweisbar ist oder die Höhe als unverhältnismäßig angesehen wird, was gegen das Prinzip der fairen Vertragsgestaltung verstoßen könnte.

Rechtlich ist dieser Vorschlag deswegen ebenfalls fragwürdig. Grundsätzlich gilt im deutschen Zivilrecht der Grundsatz „ohne Leistung keine Vergütung“. Das bedeutet, dass ein Arzt nur dann eine Zahlung verlangen kann, wenn eine Leistung erbracht wurde. Eine Strafzahlung für eine nicht erbrachte Leistung – nämlich eine ärztliche Behandlung, die aufgrund des Nichterscheinens des Patienten nicht stattfand – könnte rechtlich problematisch sein. Solche pauschalen Strafgebühren könnten in der Rechtsprechung als unverhältnismäßig und unzulässig betrachtet werden.

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Verdienstausfall: Wann ist er überhaupt gerechtfertigt?

Ein weiterer Aspekt, der bei der Diskussion um Strafzahlungen oft übersehen wird, ist die Frage, wann tatsächlich ein Verdienstausfall für die Arztpraxis entsteht. In vielen Praxen, besonders in städtischen Gebieten oder bei Fachärzten, gibt es lange Wartezeiten. Es ist oft möglich, bei kurzfristigen Absagen andere Patienten nachrücken zu lassen oder spontane Konsultationen durchzuführen. In solchen Fällen entsteht kein echter Verdienstausfall – und eine Strafzahlung wäre schlicht nicht gerechtfertigt.

Die pauschale Einführung einer Strafzahlung ignoriert diese Tatsache und würde Praxen sogar dann finanzielle Vorteile verschaffen, wenn sie keine tatsächlichen Verluste erleiden. Dies wirft erhebliche Gerechtigkeitsfragen auf.

Bessere Lösungen: Effizientes Terminmanagement statt Strafen

Statt Patienten oder Krankenkassen zur Kasse zu bitten, gibt es effektivere und nachhaltigere Lösungen für das Problem der versäumten Arzttermine. Viele Praxen setzen bereits auf digitale Erinnerungsdienste, bei denen Patienten per SMS oder E-Mail an ihre bevorstehenden Termine erinnert werden. Diese einfachen Maßnahmen sind äußerst effektiv darin, die Termintreue zu erhöhen.

Darüber hinaus könnten flexible Stornierungsbedingungen dazu beitragen, die Zahl der nicht wahrgenommenen Termine zu verringern. Wenn Patienten die Möglichkeit haben, Termine kurzfristig und ohne Strafe abzusagen, sind sie eher bereit, rechtzeitig Bescheid zu geben, wenn sie einen Termin nicht wahrnehmen können. In Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden haben solche Systeme bereits ihre Wirksamkeit bewiesen.

Auch ein besseres Terminvergabesystem, bei dem Patienten online ihre Termine einsehen, verwalten und bei Bedarf anpassen können, würde helfen, die Zahl der verpassten Termine zu reduzieren. Ein flexibleres System könnte verhindern, dass Patienten Monate im Voraus Termine buchen müssen, die sie später möglicherweise nicht mehr wahrnehmen können.

Fazit: Eine verfehlte und kurzsichtige Maßnahme

Der Vorschlag von Andreas Gassen zur Einführung von Strafzahlungen für versäumte Arzttermine greift zu kurz und lässt die eigentlichen Herausforderungen des Gesundheitssystems außer Acht. Die Krankenkassen sind bereits finanziell stark belastet und könnten durch zusätzliche Kosten noch weiter unter Druck geraten. Gleichzeitig riskiert die Einführung von Strafgebühren, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient zu untergraben und die Prävention zu schwächen – mit weitreichenden negativen Folgen für das gesamte Gesundheitssystem.

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Anstatt auf Strafen zu setzen, sollten strukturelle Verbesserungen wie effizientes Terminmanagement und digitale Erinnerungen gefördert werden. Diese Maßnahmen haben das Potenzial, das Problem der versäumten Termine zu reduzieren, ohne Patienten oder Krankenkassen unverhältnismäßig zu belasten.

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