Predictive Analytics: Industrieversicherungen gezielt auf kommende Risiken ausrichten
Predictive Analytics sind ein Teilbereich des maschinellen Lernens, der die Risikoanalyse für Versicherer erleichtert, weiß Artur Reimer, CEO bei corify und Vorstand von Hypoport Insurtech AG. Im Gastbeitrag erklärt er, welche Anwendungsgebiete es gibt und was der Industrieversicherung für den flächendeckenden Einsatz noch fehlt.
In den letzten vierzig Jahren ist das Aufkommen extremer Wetterereignisse weltweit um das Dreifache gestiegen und zog allein im Jahr 2023 wirtschaftliche Verluste in Höhe von 270 Milliarden Euro nach sich. Gleichzeitig ist laut der EU-Versicherungsaufsicht Eiopa nur etwa ein Viertel der wetter- und klimabedingten wirtschaftlichen Schäden in Europa versichert: So warnte die Eiopa in einem Bericht kürzlich vor einer wachsenden Versicherungslücke im Bereich Naturkatastrophen.
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Beispiele wie dieses zeigen, dass, wenn es um die Versicherung zukünftiger Risiken geht, die Versicherungsbranche vor unausweichlichen und grundlegenden Herausforderungen steht. Predictive Analytics, ein Teilbereich des maschinellen Lernens, könnte dabei in Zukunft eine zentrale Rolle spielen und Anlass zur Hoffnung geben.
Was ist Predictive Analytics?
Predictive Analytics nutzt Data Mining, Predictive Modeling und Machine Learning, um aus historischen und aktuellen Daten Vorhersagen für zukünftige Ereignisse zu treffen. Machine Learning ist dabei ein Teilbereich der künstlichen Intelligenz (KI), der es ermöglicht, aus Daten zu lernen und Vorhersagemodelle zu erstellen. In der Versicherungsbranche wird Predictive Analytics eingesetzt, um Risiken wie Naturkatastrophen, Streiks, Maschinenausfälle, Betriebsunterbrechungen oder Projektverzögerungen vorherzusagen.
Traditionell basiert die Risikobewertung in der Industrieversicherung auf historischen Schadensdaten. Predictive Analytics nutzt jedoch die Möglichkeiten von Big Data, um darüber hinauszugehen, indem es nicht nur historische Daten, sondern auch erweiterte und detailliertere Informationen aus externen Datenquellen bezieht. Dadurch können Muster identifiziert und Risiken antizipiert werden, die zuvor schwieriger vorherzusagen waren.
Für Versicherer bedeutet der Einsatz von Predictive Analytics einerseits eine Verbesserung und Erleichterung ihrer Risikoanalyse. Zum anderen bietet die Technologie Möglichkeiten zur Erweiterung des Geschäftsmodells: Mit ihrer Hilfe lassen sich nicht nur Schäden vorausschauend erkennen und entsprechend versichern, sondern durch präventive Maßnahmen sogar verhindern.
Anwendungsfälle in der Industrie
Einige Unternehmen setzen Predictive Analytics bereits erfolgreich ein: So nutzt der Autohersteller BMW die Ergebnisse von Predictive Analytics für seine verschiedenen Standorte, um die Bauart seiner Werke an zukünftige Starkregenereignisse anzupassen.
Ein Teilgebiet der Predictive Analytics ist Predictive Maintenance – die vorausschauende Wartung von Maschinen: Anhand von Sensordaten und historischen Maschineninformationen werden Ausfälle vorhergesagt und durch rechtzeitige Wartung vermieden. In der Praxis bedeutet das, dass ein Aufzugsunternehmen wie Schindler mit Sensoren überwacht, wann und wie eine Wartung erforderlich ist, um Ausfälle zu verhindern. Ein weiteres Beispiel für den Praxiseinsatz ist ein Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit Chubb und Prothinx: Sensoren zur Leckage-Erkennung in wasserführenden Leitungen identifizieren mithilfe von KI Unregelmäßigkeiten frühzeitig, während KI-gestützte Kamerasysteme an Wasserzählern automatisch auf potenzielle Risiken hinweisen.
Wir sehen an solchen Beispielen, dass es in der Praxis durchaus schon Ansätze zur Nutzung von Predictive Analytics gibt. Gleichzeitig sind wir noch weit von einer Durchsetzung und damit auch von einer vollen Ausschöpfung des Potenzials entfernt. Ein Großteil der Versicherer bietet seinen Kunden noch keine Dienstleistungen wie Predictive Maintenance oder denkbare Konzepte wie Prevention as a Service an, mit denen sie Unternehmen helfen könnten, Risiken nicht nur zu antizipieren, sondern sie vor ihrem Eintreten zu verhindern.
Herausforderungen bei der Einführung von Predictive Analytics
Trotz der vielversprechenden Möglichkeiten von Predictive Analytics gibt es auch einige Herausforderungen. Die größte Hürde besteht darin, die notwendigen Daten in standardisierter und strukturierter Form zur Verfügung zu stellen. Viele Versicherer verfügen zwar über große Mengen an Informationen, die für die Risikoanalyse potenziell relevant sind, jedoch sind diese oft unstrukturiert und häufig nicht einmal digital verfügbar. Zudem liegen die Daten zumeist isoliert bei den einzelnen Versicherern, was eine übergreifende Modellierung und Analyse auf Basis von Marktdaten erschwert. Das Problem zeigt sich ganz offen in der heutigen Arbeit von Risikoanalysten: Nicht selten fließt ein Großteil ihrer Arbeitszeit nicht in die Auswertung von Daten – sie sind vielmehr die meiste Zeit mit der Datenaufbereitung beschäftigt.
Hinzu kommt, dass viele Versicherer noch nicht über die technologischen Ressourcen verfügen, um solche Analysen in großem Umfang durchzuführen, oder dass die Hürden für die Einführung solcher Services für Unternehmen aufgrund der Datenlage schlicht noch viel zu hoch sind, damit sich die Erweiterung des Geschäftsmodells für Versicherer aktuell lohnen würde.
Ein weiterer Aspekt ist die mangelnde Transparenz der verwendeten Algorithmen. Predictive Analytics kann zwar beeindruckende Vorhersagen treffen, aber je stärker die Technologie auf maschinellem Lernen basiert, desto mehr bleibt der Entscheidungsprozess eine "Blackbox". Da es gerade im Bereich Industrieversicherung schlicht um zu wichtige Entscheidungen geht, muss Transparenz hier umso mehr an erster Stelle stehen und die einzelnen Schritte zum finalen Analyseergebnis müssen im Einsatz der Technologie nachvollziehbar werden.
Der Weg zum flächendeckenden Einsatz: Was muss passieren?
Betrachtet man die Herausforderungen und Hürden, fragt man sich schnell, ob Predictive Analytics im Industrieversicherungsbereich überhaupt eine Zukunft hat. Die Antwort bleibt dennoch: Ja, das muss sie sogar! Mit Blick auf zukünftige Risiken muss sich die Versicherungsbranche weiterentwickeln.
Damit Predictive Analytics in der Industrieversicherung flächendeckend zum Einsatz kommt, braucht es ein Ökosystem aus verschiedenen Anbietern, die strukturierte Daten liefern und diese analysieren können. Künstliche Intelligenz (KI) spielt dabei eine zentrale Rolle, indem sie große Mengen an unstrukturierten historischen Daten, die derzeit ungenutzt bleiben, automatisiert aufbereitet und in verwertbare Informationen umwandelt.
Fast noch wichtiger ist die Akzeptanz und der Veränderungswille innerhalb der Versicherungsbranche. Die Technologie entwickelt sich schneller, als es die meisten Branchenakteure gewohnt sind. Der Anpassungsdruck, an die dynamische Risiko- und Technologielandschaft, wird weiter steigen. Erste Schritte in Richtung einer Bereitschaft zum Wandel sind jedoch bereits sichtbar: Eine branchenweite Risikosprache, die Vergleichbarkeit und Transparenz herstellen kann, wird zunehmend in der Branche diskutiert.
Für diesen Wandel ist es unerlässlich, dass Versicherer, Makler und Technologieunternehmen zusammenarbeiten, um gemeinsame Datenstandards zu entwickeln. An dieser Zusammenarbeit und der Vision, einen gemeinsamen Datenstandard zu schaffen, der der Branche den dringend benötigten Sprung in die Möglichkeiten digitaler und intelligenter Technologie ermöglicht, arbeiten wir gerade.
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Fazit
Die Vision, die sich durch den Einsatz von Predictive Analytics eröffnet, reicht weit über das heutige Versicherungsgeschäft hinaus. Zukünftig könnten Versicherungen von einem rein reaktiven zu einem präventiven Modell wechseln: „Prevention as a Service“, bei dem Versicherer Unternehmen aktiv dabei unterstützen, Risiken frühzeitig zu erkennen und durch präventive Maßnahmen zu minimieren, könnte für Versicherer ein wichtiges Geschäftsmodell werden. Die größten Hürden liegen derzeit in der Datenverfügbarkeit und der Wandlungsfähigkeit der Branche. Doch für Versicherer, die den Wandel aktiv gestalten, bieten sich enorme Chancen: Sie können nicht nur ihre eigenen Geschäftsmodelle erweitern, sondern auch ihren Kunden helfen, sich besser gegen die Risiken der Zukunft abzusichern.