„Ein Satz verliert nicht an Präzision, wenn ich ihn in drei Sätze aufteile“
Gidon Wagner von Wortliga erklärt im Interview, warum verständliche Sprache in der Versicherungsbranche entscheidend ist. Von komplizierten Verträgen bis hin zu kundenfreundlichen Websites – er zeigt, wie Versicherer ihre Kommunikation verbessern können.
Versicherungsbote: Wie genau gehen Sie bei der Analyse von Texten vor, um festzustellen, wo Verständlichkeitsprobleme liegen? Welche Tools oder Methoden setzen Sie ein?
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Gidon Wagner: Unsere Software prüft Texte auf Basis des Hamburger Verständlichkeitskonzepts. Diese Forschung hat vier Faktoren festgestellt, die für Verständlichkeit wichtig sind: Kürze und Prägnanz, Gliederung und Ordnung, Einfachheit und anregende Zusätze. Unsere Software findet und markiert zum Beispiel zu lange Sätze oder lange, komplizierte Wörter. Sie erkennt in Texten auch Passiv-Formulierungen oder den Nominalstil. Das alles zieht Texte in die Länge, macht sie kompliziert und auch langweilig zu lesen. Und das stellt die Gehirne der Leser vor unnötige Herausforderungen.
Die Wortliga-Textanalyse berechnet aus all diesen Faktoren einen Verständlichkeitsindex von 0 bis 100. Ab 60 Punkten sprechen wir von allgemeiner Verständlichkeit. Im Optimalfall liegt der Wert zwischen 60 und 80, je nachdem, wie viel Zeit man in die Überarbeitung investieren kann.
Das Tool berechnet zudem das Sprachniveau von Texten. Wir haben dafür eine große Zahl von Referenztexten etwa von Sprachinstituten ausgewertet und nachvollzogen. So erkennt die Browser-Software nun zuverlässig, ob sich ein Text auf dem allgemein verständlichen Sprachniveau B1 bis B2 aufhält.
Gibt es bestimmte Versicherungsprodukte oder Vertragsarten, bei denen Sie besonders häufig auf unverständliche Formulierungen stoßen? Welche Bereiche der Versicherungsbedingungen sind für Verbraucher besonders schwer verständlich?
In unseren beiden bisherigen Studien haben wir uns auf die Endkunden-Kommunikation auf den Websites der Versicherer konzentriert. Auffällig ist, dass die Texte umso komplizierter werden, je tiefer sie sich mit den Produkten beschäftigen. Das fällt besonders in den FAQ-Bereichen der Versicherer auf, also gerade dort, wo Versicherer Fragen der Kunden beantworten wollen. Pikant: Diese Textbausteine tauchen auch oft in den Suchergebnissen auf und haben damit besonders viel Wirkung, positiv oder negativ.
Auch in den Versicherungsbedingungen und Verträgen fällt uns auf, dass die Dokumente meist relativ verständlich beginnen und nach unten immer komplexer werden. Vermutlich liegt es auch hier an der Tiefe der Inhalte. Im Verlauf der Verträge fällt es den Autoren zunehmend schwer, in kundennaher Sprache zu formulieren. Schuld sind natürlich auch Textbausteine, die verpflichtend sind.
Verständlich schreiben ist anstrengend. Ich vermute, dass es den Autoren deshalb bei längeren Dokumenten schwerer fällt, einen kundenfreundlichen Stil beizubehalten.
Die Versicherungsbranche ist bekannt für ihre komplizierten Verträge. Wie gehen Sie mit dem Spannungsfeld um, dass juristisch komplexe Formulierungen oft als notwendig gelten, um alle rechtlichen Eventualitäten abzudecken, während Verbraucher einfache und klare Erklärungen erwarten?
Das Problem ist gesellschaftlich-institutionell. Der angelsächsische Raum ist beim verständlichen Vertragswerk viel weiter und beweist, dass hoch-präzise Rechtssprache kundenfreundlich sein kann.
Der klassische deutsche Vertragssatz ist verschachtelt. Ein Satz verliert aber nicht an Präzision, wenn ich ihn in drei Sätze aufteile. Das ist also ein Vorurteil. Wir bei Wortliga versuchen, dem Vorurteil mit Fakten zu begegnen.
Es gibt sehr viele Behörden in den USA, die ihre Gesetzestexte vereinfacht haben. Daraus folgten nicht mehr Rechtsstreitigkeiten, sondern im Gegenteil weniger Unklarheiten. Bürger rufen seltener an und haben weniger Fragen zu Gesetzen.
Sie haben eingangs gesagt, dass wir es mit einem institutionellen Problem zu tun haben. Was meinen Sie damit?
Verträge in Deutschland und in der EU stehen auf derart komplizierten Formulierungen, weil sie sich strikt an die Textbausteine aus Gesetzestexten halten, um konform mit Gesetzen zu kommunizieren. Der Gesetzgeber müsste also damit beginnen, juristische Formulierungen in Klartext zu gießen. Das geht! Die USA, aber auch Kanada und Großbritannien machen es vor.
Es gibt zum Beispiel ein Gesetz über die Lesbarkeit von Versicherungsbedingungen in Florida. Darin werden nicht nur in recht verständlichem Englisch Vorgaben gemacht, sondern das Gesetz gibt auch klare Anweisungen, dass Versicherungsbedingungen mit einem Lesbarkeitsindex auf Verständlichkeit geprüft werden müssen.
Hier ist die Denkweise des Gesetzgebers einfach schon viel weiter und das ist auch in Deutschland nötig, damit Verträge nicht mehr kompliziert sind. Darauf sollten sich Juristen aber nicht ausruhen. Auch jetzt gibt es schon Spielraum: wie die vorhin erwähnten Schachtelsätze, die man locker in zwei bis drei Sätze aufteilen kann, ohne an Präzision zu verlieren – um nur ein Beispiel zu nennen.
Inwieweit glauben Sie, dass eine verständlichere Sprache in Versicherungsbedingungen tatsächlich zu mehr Vertrauen und langfristiger Kundenzufriedenheit führt? Gibt es schon messbare Ergebnisse oder Rückmeldungen aus der Branche?
Ich glaube daran, und untermauert wird dieser Glaube von Fakten. Es gibt verschiedene repräsentative Untersuchungen, die dieses gesteigerte Vertrauen belegen. Eine Umfrage von Siegel + Gale aus dem Jahre 2009 zeigt zum Beispiel, dass Verbraucher Unternehmen eher vertrauen, die auf Fachjargon verzichten. Betroffen sind 84 Prozent der Verbraucher. Eine andere Studie zeigte, dass die Konversionsrate auf Websites von der Verständlichkeit der Inhalte beeinflusst wird. In meinem Buch „Der Klartext-Effekt“ im Springer-Verlag fasse ich die Fakten und Quellen zusammen, die den Effekt verständlicher Sprache belegen.
Letztens telefonierte ich mit dem Marketingleiter einer großen Versicherung, der mir erzählte, dass ihre Online-Abschlüsse sich deutlich verbessert haben, seitdem sie ihre Texte überarbeitet und verständlicher geschrieben haben.
Besonders wichtig ist Verständlichkeit dann, wenn der Kunde sich selbst mit den Inhalten auseinandersetzen muss. Wenn ihm ein Makler alles erklärt, tritt die Verständlichkeit ein Stück weit in den Hintergrund, sofern er dem Vermittler vertraut.
Es stehen natürlich vor allem die Texte im Vordergrund, mit denen ich als Kunde zuerst in Kontakt komme; auf der Website, in Social Media. Der E-Commerce profitiert also ganz besonders von Verständlichkeit. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz betrifft nicht ohne Grund stark den E-Commerce.
Verständlichkeit ist oft auch eine Frage der Kundenansprache. Wie arbeiten Sie mit Versicherern zusammen, um nicht nur Verträge, sondern auch andere Kundenkommunikationen, wie Broschüren oder Webseiten, kundenfreundlicher zu gestalten?
Versicherer beziehen von uns eine Sammlung verschiedener Tools, um ihre gesamte Kundenkommunikation kundenfreundlich und hilfreich zu gestalten. Viele Unternehmen konzentrieren sich bei der Nutzung auf unsere Analysewerkzeuge. Aber auch unsere KI-Tools helfen Versicherungen bei der Kundenkommunikation. Unsere Software für das Umschreiben von Texten etwa konzentriert sich bei der Analyse allein auf die Lesbarkeit und ist stark auf Automatisierung ausgelegt. Der Sachbearbeiter oder Marketingmitarbeiter gibt seinen gewünschten Text oder das Dokument in das Tool ein und erhält automatisch eine Übersetzung in den gewünschten Stil mit deutlicher Vereinfachung.
Das hilft auch Mitarbeitern von Versicherern, die mit dem hausinternen Chatbot oder Tools wie ChatGPT arbeiten. Denn oft ist der Stil steif und nicht persönlich genug. Hier verbessern unsere KI-Anwendungen den Stil und die Lesbarkeit.
Bei allen Möglichkeiten, die KI bietet, sollten Unternehmen bei Software den Analyse-Teil nicht vernachlässigen. Denn indem Mitarbeiter detaillierte Analysen ihrer Texte erhalten, lernen sie auch. Die Kompetenz für kundennahe Kommunikation muss weiterhin bei den Mitarbeitern liegen. Wie soll man sonst bei Millionen jährlichen Briefen und E-Mails die Qualität sicherstellen?
Deswegen sind Fortbildungen und E-Learning im Bereich "Schreibkompetenz" aus unserer Sicht sehr wichtig. Nur so kann ein Unternehmen dauerhaft seine Kommunikation verbessern und dadurch nicht zuletzt Kosten sparen. Dazu zeige ich viele Belege in meinem Buch.
Wie schulen Sie Versicherer oder deren Mitarbeitende darin, verständlichere Kommunikation zu erstellen? Gibt es Workshops oder Fortbildungen, die Wortliga anbietet?
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Es gibt eine große Zahl von Trainern und Coaches, die mit unserer Software in Unternehmen Mitarbeiter schulen. Unser Textanalyse-Tool ist dabei ein wichtiges Instrument, um Sprache und Verständlichkeit greifbar und erfahrbar zu machen. Menschen können sich damit selbst korrigieren und lernen dabei. Der Trainer schult die Theorie zur verständlichen Kommunikation – die Praxis üben die Seminar-Teilnehmer dann unter anderem mit der Textanalyse.
Wenn ein Versicherer eine Fortbildung oder einen Workshop wünscht, vermitteln wir gerne einen passenden Partner in der Nähe, der das Thema Verständlichkeit mit den Menschen im Unternehmen angeht. Wie gerade schon erwähnt, ist auch die tägliche Anwendung unserer Textanalyse-Software bereits Weiterbildung und Schulung.
Diese veränderte Arbeit an Texten ist eine Umstellung, spart jedoch am Ende viel Zeit, auch durch weniger Rückfragen von Kunden. Mitarbeiter entwickeln durch die spielerischen Elemente der Software auch mehr Freude am Formulieren. Deswegen arbeiten übrigens auch viele Schulen mit Wortliga im Unterricht; vom Gymnasium bis zur Berufsschule.
Versicherer, die unsere Software flächendeckend im Einsatz haben, berichten uns, dass die Software in internen Workshops hilfreich ist und dass Menschen, die das Tool regelmäßig nutzen, ihre Kommunikation deutlich verbessern – und das nachhaltig.