Wirtschaftsweise: 'Die Angst vor Wählerverlusten blockiert Rentenreformen'
Die gesetzliche Rentenversicherung steht vor enormen Herausforderungen, die durch den demografischen Wandel und steigende Kosten immer drängender werden. Doch die Politik schreckt aus Angst vor Wählerverlusten vor dringend notwendigen Reformen zurück, mahnt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer. Diese Zurückhaltung gefährdet nicht nur die Stabilität des Rentensystems, sondern belastet vor allem die junge Generation überproportional.
In einem Interview in der Fachzeitschrift "Aktuar Aktuell" von der Deutschen Aktuarvereinigung skizziert die Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Monika Schnitzer, die großen Baustellen im Rentensystem. Die Wirtschaftsweise beschreibt die Herausforderungen der gesetzlichen Rentenversicherung als eine der drängendsten Aufgaben der Politik. Doch trotz der Dringlichkeit scheinen viele politische Entscheidungsträger vor grundlegenden Reformen zurückzuschrecken. „Bei all den dramatischen Entwicklungen und Konflikten in verschiedenen Regionen dieser Welt will ich vorsichtig sein mit Superlativen, aber die Herausforderungen der gesetzlichen Rentenversicherung sind so gewaltig, dass das Thema ins Zentrum der Programme aller Parteien rücken müsste, die die Zukunft dieses Landes ernsthaft gestalten wollen“ betont Schnitzer in einem Interview.
Anzeige
Ein System unter Druck: Die demografische Herausforderung
Mit dem Renteneintritt der Babyboomer-Generation steht die gesetzliche Rentenversicherung vor immensen finanziellen Herausforderungen. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern verschlechtert sich rapide – von derzeit etwa 3:1 auf voraussichtlich 2:1 in den kommenden Jahren. Die Folge: Ein immer größerer Anteil des Bundeshaushalts wird benötigt, um die Rentenkasse zu stützen. Schon jetzt fließt rund ein Viertel der Haushaltsmittel in die Rentenversicherung, mit weiter steigender Tendenz. Schnitzer warnt:
„Die bereits hohen Beitragssätze werden weiter steigen müssen, erst recht, wenn jetzt, wie im Rentenpaket II geplant ist, durch Einziehen von Haltelinien eine Begrenzung des Rentenanstiegs ausgeschlossen wird. Das ist nicht generationengerecht, denn die Jüngeren müssen immer mehr zahlen, um die vielen Älteren zu finanzieren.“
Dringender Reformbedarf: Renteneintrittsalter und neue Berechnungsmodelle
Schnitzer plädiert für eine Reihe von Reformen, um die finanzielle Tragfähigkeit des Rentensystems zu sichern. Dazu gehört eine Anpassung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung. Der Sachverständigenrat schlägt vor, dass jedes zusätzliche Jahr Lebenserwartung zu zwei Dritteln auf eine längere Erwerbsphase und zu einem Drittel auf eine längere Rentenphase umgelegt wird. Gleichzeitig fordert sie eine Anpassung der Rentenanpassung: Statt wie bisher an die Lohnentwicklung sollten Renten an die Inflation gekoppelt werden, um die Kaufkraft zu erhalten, ohne die Rentenkassen übermäßig zu belasten.
Darüber hinaus setzt sie sich für eine progressivere Rentenberechnung ein. Ein nach Einkommen gestaffeltes Modell würde niedrigere Einkommen stärker berücksichtigen und das Solidarprinzip im Rentensystem stärken.
Kritik an der politischen Zurückhaltung
Trotz der bekannten Probleme zeigt sich Schnitzer enttäuscht über die mangelnde Bereitschaft der Politik, grundlegende Reformen anzupacken. Der Grund: Angst vor Wählerverlusten. „Leider hat sich seit meiner Tätigkeit im Sachverständigenrat durch den Kontakt zu vielen politischen Entscheidungsträger:innen mein Eindruck verfestigt, dass alle vor ernsthaften Reformen zurückscheuen, aus Sorge, die Wählergunst zu verlieren,“ stellt sie klar. Diese Zurückhaltung gefährdet aus ihrer Sicht die langfristige Stabilität des Systems und verstärkt die Belastungen für die jüngeren Generationen.
Anzeige