Die Versicherungsbranche steckt mitten in einer grundlegenden Transformation. Veränderte Kundenerwartungen, technologischer Fortschritt und steigender Kostendruck zwingen die Branche dazu, ihre traditionellen Strukturen neu zu denken. Besonders im Schadenmanagement, dem zentralen Element vieler Versicherungsdienstleistungen, wird deutlich, wie tiefgreifend diese Veränderungen sind. Kunden erwarten schnelle, transparente und fehlerfreie Prozesse, während Versicherer gleichzeitig ihre Effizienz steigern und Kosten senken müssen. Ersteres zeigte auch eine Endkundenbefragung, die im Auftrag von Rocket, a Verisk business durchgeführt wurde. Darin gaben 87,7 % der Befragten an, dass ihnen Schnelligkeit und Effizienz in der gesamten Abwicklung wichtig bzw. sehr wichtig ist.

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Technologien wie generative KI zeigen, wie stark technologische Entwicklungen Kundenerlebnisse und Prozesseffizienz schon heute beeinflussen. Parallel dazu erlebt die Branche einen nie dagewesenen Kollaborationsdrang. Versicherer sowie Dienstleister im Schaden-Umfeld müssen strategische Möglichkeiten ausloten und die daraus entstehenden Chancen nutzen, ohne an der Komplexität zu scheitern. Herausforderungen wie die Vielzahl an Dienstleistern mit unterschiedlichen Schnittstellen, Verträgen und SLA-Vereinbarungen erschweren die Zusammenarbeit. In dem Kontext gewinnen digitale Ökosysteme – ein Zusammenspiel aus Technologien, Plattformen und Partnernetzwerken – an Bedeutung.

Ökosysteme: Die Zukunft des Schadenmanagements

Michael Rodenberg ist Direktor Property Solutions Europe bei Verisk. Dort verantwortet der gelernte Chemiker den Geschäftsbereich des Gebäudeschadenmanagements und ist Geschäftsführer der Rocket Enterprise Solutions GmbH, die seit Anfang 2024 ein Unternehmen der Verisk-Gruppe ist.Die Etablierung eines funktionierenden Ökosystems ist entscheidend, um sich zukunftssicher aufzustellen. Ein Ökosystem ist dabei weit mehr als eine Ansammlung von Partnerschaften. Es beschreibt eine vernetzte, digitale und kooperative Plattform, die Produkte und Services aller relevanten Akteure im Schadenmanagement miteinander verbindet, wie z.B. Versicherungen, Dienstleistern und Kunden. Ziel ist es, alle relevanten Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette effizienter und konsequent kundenorientiert zu gestalten.

Im Schadenmanagement wird das Potenzial solcher Systeme besonders deutlich. Digitale Plattformen bündeln Dienstleistungen, Technologie und Daten an einem Ort und machen sie so für alle angeschlossenen Parteien nutzbar – von der Schadenmeldung über die automatisierte Steuerung bis hin zur Reparatur oder Auszahlung.

Ein Zukunftsszenario könnte wie folgt aussehen:

Nach einem Verkehrsunfall meldet der Geschädigten den Schaden über seinen präferierten Schadenmeldeweg. Unabhängig des Eingangs werden Schäden einheitlich und strukturiert an ein zentrales Ökosystem, das alle Beteiligten, wie Versicherungen, Werkstätten, Notfalldiensten sowie weiteren Partner koordiniert, übergeben. KI-gestützte Systeme analysieren Schadenbilder, bewerten den Schaden der Höhe nach und geben eine Empfehlung hinsichtlich der Schadenregulierung aus: Von der Ausgleichszahlung bis hin zur direkten Terminbuchung im Self-Service bei einer Partnerwerkstatt.

Für die Kunden bedeutet dies: schneller Zugang zu Hilfe, transparente Abläufe und deutlich kürzere Bearbeitungszeiten. Versicherer profitieren von einem ressourcen- und kosteneffizienten Prozess, der gleichzeitig die Kundenzufriedenheit steigert. Dieses ideale Schaden-Ökosystem setzt neue Standards in der Versicherungsbranche und zeigt, wie technologische Innovationen und spartenübergreifende Zusammenarbeit die Zukunft prägen können.

Das Besondere an diesem Ansatz: Er stellt die Kundenerwartungen konsequent in den Fokus, während Prozesse für angeschlossene Partner und Dienstleister einfacher, transparenter und mit weniger Medienbrüchen funktionieren. Dabei konzentriert sich jeder Akteur auf sein Kerngeschäft. Zusätzlich sorgen standardisierte Technologien und die Verwendung von nur einer Plattform für eine große Arbeitserleichterung und höhere Präzision – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels.

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Ein konkretes Beispiel aus dem Gebäudeschadenmanagement verdeutlicht diese Vorteile: Versicherer, Sachverständige und Sanierungsorganisationen können schon heute gemeinsame digitale Plattformen nutzen, um Schäden effizient zu regulieren. Standardisierte Tools ermöglichen es allen Beteiligten, medienbruchfrei zusammenzuarbeiten. So entsteht ein Marktplatz für Dienstleistungen, der Prozesse transparenter und kundenfreundlicher gestaltet.

Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen als Innovationstreiber im Ökosystem

Der Einsatz von Technologien zur Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen ist schon heute ein Erfolgstreiber im Schadenmanagement, um veränderte Kundenerwartungen zu erfüllen und strategische Ziele zu erreichen. Auch die Integration von KI spielt eine Schlüsselrolle: KI ermöglicht nicht nur die automatisierte Analyse von Schäden, sondern unterstützt auch die Strukturierung, Steuerung sowie die Regulierung von Schäden. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) schreibt in seiner Publikation „Fakten zur Versicherungswirtschaft“ aus dem Herbst 2024, dass bereits über 30 % der Fälle in der Schadenbearbeitung inzwischen vollständig ohne menschliches Eingreifen abgewickelt werden.

Besonders im Bereich der Datenextraktion zeigt sich das Potenzial von KI-Technologien. Digitale Tools extrahieren relevante Informationen aus komplexen Dokumenten und stellen diese in strukturierter Form für die Weiterverarbeitung bereit. Dabei kommen Technologien wie Optical Character Recognition (OCR) und Machine Learning (ML) zum Einsatz, um beispielsweise Diagnosen automatisiert in ICD-Codes zu überführen oder Schadenhergänge anhand von Bildern zu validieren. So werden administrative Aufgaben erheblich vereinfacht und Sachbearbeitende können sich auf komplexere Fälle konzentrieren. Wenn die extrahierten Daten dann über direkte Schnittstellen im Schaden-Ökosystem bereitstehen, können datenbasierte Risikoeinschätzungen, Prüfregelwerke oder Vorhersagemodelle ("Next Best Actions") automatisiert integriert werden.

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In einem zukunftsfähigen Schaden-Ökosystem greifen Technologien nahtlos ineinander. Die Grundlage hierfür ist eine technische Basis, auf der Dienstleister ihre Produkte und Services bereitstellen können und Versicherer diese möglichst automatisiert nutzen können. Dabei kommt es auf Schnittstellen, aber auch die intelligente Verknüpfung von Dienstleistungen und Produkten sowie den einfachen Zugang aller Beteiligten zu diesen Angeboten an – von Aufträgen, über Zwischenstände bis hin zu Abrechnung, SLA Trackings und weiterem.

Versicherer können datengetriebene Entscheidungen treffen, Partnerunternehmen effizienter einbinden und Kunden eine schnelle, unkomplizierte Schadenregulierung bieten. So wird das Schadenmanagement der Zukunft nicht nur effizienter, sondern auch kundenfreundlicher und wettbewerbsfähiger.

Herausforderungen auf dem Weg zur Transformation

Trotz zahlreicher Vorteile stehen Versicherer vor einigen Hürden. Der Aufbau eines Ökosystems erfordert technologische Investitionen und ein Umdenken in den internen Strukturen. Die Hoheit der Schadenbearbeitung obliegt heute überwiegend den Versicherern selbst und Kooperationen mit Marktteilnehmern werden noch immer kritisch betrachtet. Mitarbeitende müssen geschult und Prozesse neu gestaltet werden. Datenschutz bleibt dabei eine unvermeidliche Auflage, insbesondere bei Gesundheitsdaten. Hier stellt sich die Frage, ob und inwiefern alle Beteiligten heute schon für den Austausch von Daten und Informationen bereit sind. Nur durch transparente Kommunikation und enge Zusammenarbeit können diese Herausforderungen gemeistert werden.

Eine digitale Zukunft mit menschlichem Fokus

Die Versicherungsbranche steht am Beginn eines neuen Zeitalters. Partnerschaftliche Zusammenarbeit in Ökosystemen bietet enorme Potenziale, um die Effizienz zu steigern und den gestiegenen Kundenerwartungen gerecht zu werden. Versicherer, die frühzeitig in diese digitalen Plattformen investieren, sichern sich einen Wettbewerbsvorteil und positionieren sich als Vorreiter in einer sich wandelnden Branche.

Trotz aller technologischen Fortschritte bleibt die menschliche Expertise unverzichtbar. In sensiblen oder komplexen Fällen ist die Kombination aus digitaler Unterstützung und menschlichem Urteilsvermögen entscheidend. Die Zukunft der Versicherungswirtschaft ist digital – aber immer mit einem klaren Fokus auf den Menschen.

Zusätzlich wird deutlich, dass Versicherer nicht isoliert agieren können. Vielmehr ist eine stärkere Vernetzung mit externen Partnern und innovativen Dienstleistern notwendig, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Langfristig zeigt sich: Nur durch Kooperation und den Austausch von Know-how lassen sich nachhaltige und zukunftsfähige Lösungen etablieren, die sowohl den Kunden als auch den Unternehmen selbst zugutekommen. Letztlich entscheidet die Fähigkeit, sich kontinuierlich an neue Anforderungen anzupassen, über die langfristige Wettbewerbsfähigkeit in einer dynamischen und zunehmend digitalisierten Welt.

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