Vor einigen Jahren war vielen deutschen Politikern die 40 Prozent-Grenze heilig. Das Ziel dabei war es stets den Gesamtbeitrag der Sozialversicherung unter dieser Grenze zu halten und so die Abgabenlast der Arbeitnehmer in einem vernünftigen Niveau zu halten. Doch aus dem einstigen Versprechen ist längst eine lose Zahl geworden, an die man sich nicht mehr gebunden fühlt. Während der Gesamtsozialversicherungsbeitrag im Jahr 2021 noch bei 39,95 Prozent lag, ist dieser inzwischen auf 42,5 Prozent angestiegen. Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist diese Entwicklung bitter. Während die Einen immer weniger Geld in der Lohntüte haben, wächst bei den Anderen der Kostenanteil. Überdies wird das Land durch die hohe Abgabenlast immer unattraktiver für ausländische Fachkräfte.

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Bis zum Jahr 2035 könnte der Gesamtbeitrag der Sozialversicherung um weitere 7,2 Beitragspunkte auf 49,7 Prozent ansteigen. Das zeigt eine Projektion des Berliner IGES Instituts im Auftrag der DAK-Gesundheit. Die Wissenschaftler haben dabei eine Gesamtprognose für alle Zweige der Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) mit der zu erwartenden Beitragsentwicklung bis 2035 berechnet. Grundlage sind aktuell verfügbare Daten der zuständigen Bundesministerien und der beteiligten Sozialversicherungsträger.

Parallelen zum Klimabeschluss von 2021

Ähnlich dramatisch beschreibt ein aktuelles Gutachten des Augsburger Finanz- und Steuerrechtlers Gregor Kirchhof die Lage der Sozialversicherung. Demnach sei die aktuelle Finanzarchitektur hochgradig instabil. Schon heute sind die Systeme stark auf Steuerzuschüsse angewiesen, besonders die gesetzliche Rentenversicherung, die jährlich über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt erhält. Nach Berechnungen von Kirchhof, die er im Auftrag des Verbands Die Familienunternehmer gemacht hat, könnten diese Zuschüsse bis 2045 auf über 200 Milliarden Euro steigen – ein Szenario, das weder mit der Schuldenbremse noch mit der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen vereinbar ist.

Spannend ist die Parallele zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021. Damals hatte das Gericht die Bundesregierung verpflichtet, die Emissionsreduzierung so zu gestalten, dass künftige Generationen nicht übermäßig belastet werden. Ähnliche rechtliche Argumente könnten nun auf die Sozialversicherung angewendet werden – mit weitreichenden Folgen für die Politik.

Die Gefahr der Generationenungerechtigkeit

Ein entscheidender Punkt: Die gegenwärtige Finanzierungsstruktur zwingt die junge Generation zu einer überproportionalen Beitragslast. Während ein Arbeitnehmer in den 1960er Jahren noch von sechs Beitragszahlern gestützt wurde, sind es heute nur noch 2,7. Bis 2070 könnte dieses Verhältnis auf 1,9:1 absinken. Das bedeutet: Ohne Reformen werden zukünftige Generationen gezwungen sein, mit Beitragssätzen von bis zu 50 Prozent ihres Einkommens die Renten, Kranken- und Pflegeleistungen zu finanzieren – zusätzlich zu den regulären Steuern und Abgaben.

„Das Grundgesetz fordert, die umlagefinanzierten Sozialsysteme zu erhalten. Die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung bilden das Fundament unseres Sozialstaats, das nicht erodieren darf.", unterstreicht Gregor Kirchhof in der Einleitung des Gutachtens. Wenn jedoch die sozialen Sicherungssysteme einen demographischen Kipppunkt erreichten, seien sie nicht mehr leistungsfähig. Aktuell steuerten die Sicherungssysteme mit Volldampf auf diesen Punkt zu. Doch: „Das Grundgesetz verbietet dem Staat, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen. Es verpflichtet den Gesetzgeber, die Versicherungen zeitnah grundlegend zu reformieren und eigenständig zu finanzieren", mahnt Kirchhof.

Hier könnte also das Bundesverfassungsgericht ansetzen: Wie beim Klimaschutz könnte es argumentieren, dass der Staat durch unterlassene Reformen das Grundrecht der jüngeren Generationen auf eine finanzierbare soziale Absicherung und wirtschaftliche Freiheit verletzt. Eine zu hohe Abgabenlast könnte als verfassungswidrige Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten gewertet werden.

Im Klimabeschluss hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Bundesregierung ihre Klimaziele so setzen muss, dass künftige Generationen nicht mit unverhältnismäßigen Einschränkungen konfrontiert werden. Kirchhof überträgt dieses Argument auf die Sozialversicherung: „Werden heute Weichen gestellt, die morgen die Rechte der Menschen sicher beeinträchtigen, ist das staatliche Handeln bereits jetzt am Maßstab der Grundrechte zu messen.“

Die Entscheidung des Gerichts hatte damals eine Verschärfung der Klimaziele erzwungen. Eine ähnliche verfassungsrechtliche Argumentation könnte die Politik nun zu umfassenden Reformen im Sozialwesen zwingen. Kirchhof sieht hierin sogar einen „justiziablen verfassungsrechtlichen Anspruch“ auf eine Reform der Sozialversicherung. Sollte sich das Bundesverfassungsgericht ähnlich wie beim Klimaschutz damit befassen und entsprechend urteilen, könnte es dem Gesetzgeber Fristen setzen, um eine nachhaltigere Sozialpolitik zu implementieren. Das wäre ein historischer Schritt – und möglicherweise die einzige Möglichkeit, das deutsche Sozialversicherungssystem auf stabile Füße zu stellen.

„Der seit Jahren fortlaufende, von der Politik hingenommene Prozess des Aufwuchses sog. „impliziter“, nicht kreditierter Schulden vor allem in den umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme ist nicht allein ein Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit. Der erreichte Zustand ist auch latent verfassungswidrig und birgt für Staat und Gesellschaft ein Prozessrisiko mit dem Volumen zwischen 5 und 7,5 Billionen Euro, weil in dem Schuldenaufbau eine rechtswidrige Umgehung der Schuldenbremse im Grundgesetz liegt.“, sagt Marie-Christine Ostermann, Präsidentin Die Familienunternehmer.

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