Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Wie gut sind Versicherer vorbereitet?
Ab dem 28. Juni 2025 müssen Versicherer ihre digitalen Angebote barrierefrei gestalten – doch viele Unternehmen sind noch nicht ausreichend vorbereitet. Besonders veraltete IT-Systeme und fehlende Standards stellen große Herausforderungen dar. Wie Versicherer das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) umsetzen und welche Chancen sich daraus ergeben, erklärt Thomas Müller, Chief Design Officer Accenture Song EMEA.

Versicherungsbote: Wie weit sind die Versicherer bei der Implementierung der Vorgaben des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) und welche Herausforderungen müssen sie bis zum Stichtag 28. Juni 2025 noch angehen?
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Thomas Müller: Die Versicherungsbranche steht bei der Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen zur Barrierefreiheit noch vor großen Herausforderungen. Ab dem 28. Juni 2025 müssen alle digitalen Angebote – wie Startseite, Produktübersichten und Abschlussstrecken – barrierefrei zugänglich sein. Das bedeutet, dass sie den Standards der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) entsprechen müssen, insbesondere den Konformitätsstufen A und AA. Auch wenn Bereiche wie der Log-in Bereich des Kundenportals, oder eine digitale Schadensmeldung nicht im Sinne des BSFG barrierefrei sein müssen, macht es natürlich Sinn, diese vor dem Hintergrund von Kundenzufriendenheit und Loyalität dementsprechend auch barrierefrei zu gestalten.
Unsere Analyse hat jedoch gezeigt, dass bisher kein Versicherer die Vorgaben in beiden Stufen vollständig erfüllt. Auch andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Es gibt also noch viel zu tun – und die Zeit bis zur Umsetzung ist knapp.
Viele Versicherer stehen vor der Herausforderung, dass ihre IT-Systeme veraltet sind und nicht ohne Weiteres an die Barrierefreiheitsanforderungen angepasst werden können. In diesen Fällen müssen bestehende Systeme entweder aktualisiert oder durch neue Lösungen ersetzt werden, um eine barrierefreie Nutzung zu ermöglichen.
Doch die technische Umsetzung allein reicht nicht aus. Barrierefreiheit erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Abteilungen, darunter Produktentwicklung, Marketing, Vertrieb, IT und externe Dienstleister. Nur wenn alle Beteiligten eng abgestimmt arbeiten, können die Standards konsequent eingehalten werden.
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Schulung der Mitarbeitenden. Barrierefreiheit ist nicht nur eine technische Anforderung, sondern betrifft auch die Gestaltung von Inhalten, Kundenkommunikation und Serviceprozessen. Daher müssen Mitarbeitende sensibilisiert und geschult werden, um die Anforderungen zu verstehen und in ihrer täglichen Arbeit umzusetzen.
Die verbleibende Zeit bis zum Stichtag am 28. Juni 2025 ist knapp, weshalb Versicherungsunternehmen sofort handeln sollten. Wer die Umsetzung aufschiebt, riskiert nicht nur gesetzliche Konsequenzen und mögliche Strafen, sondern auch Reputationsverluste und Kundenabwanderung. Schließlich betrifft Barrierefreiheit eine große Zielgruppe – und wer sie nicht berücksichtigt, lässt Umsatzpotenziale ungenutzt.
Welche digitalen Barrieren existieren im Versicherungssektor und was sind die aktuell größten Baustellen für Versicherer auf dem Weg zur digitalen Barrierefreiheit?
Versicherungsunternehmen sehen sich mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert, wenn es um die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit geht. Auch weil Versicherungskunden mit Beeinträchtigungen spezifische Bedürfnisse haben, die in der Branche bisher nicht ausreichend berücksichtigt werden. Diese Bedürfnisse betreffen verschiedene Bereiche, die – wenn Versicherungsunternehmen hier gezielt ansetzen und nicht nur gesetzliche Anforderungen erfüllen – auch dazu beitragen können, neue Kundengruppen zu gewinnen und die Kundenzufriedenheit zu steigern.
Ein zentrales Problem sind unzugängliche digitale Angebote. Viele Websites, Kundenportale und Mobile Apps sind nicht kompatibel mit Screenreadern, was zur Folge hat, dass sehbeeinträchtigte Nutzer Inhalte nur eingeschränkt wahrnehmen können. Dazu kommen unzureichende Kontraste und fehlende Anpassungsmöglichkeiten für Schriftgrößen, was Menschen mit Sehbehinderungen vor große Hürden stellt. Auch die Tastatur-Navigation ist oft nicht optimiert, sodass Nutzer mit motorischen Einschränkungen Schwierigkeiten haben, sich durch die Seiten zu bewegen. In der mobilen Nutzung fehlen oft wichtige Funktionen wie Haptic-Feedback, VoiceOver (iOS) oder TalkBack (Android), die blinden und sehbehinderten Menschen eine selbstständige Bedienung ermöglichen würden.
Hinzukommen komplizierte Vertragsdokumente und Formulare. Viele Versicherungsverträge sind in schwer verständlicher Fachsprache verfasst, und es fehlen Alternativen in einfacher Sprache, visuelle Unterstützung durch Icons, Erklärvideos oder KI-gestützte Vertragserläuterungen, die es Kunden erleichtern würden, die Inhalte zu verstehen. Auch PDFs und Formulare sind häufig nicht für Screenreader optimiert, sodass blinde oder sehbehinderte Menschen sie nicht ohne Weiteres ausfüllen können. Außerdem fehlt oft die Möglichkeit zur digitalen Signatur, wodurch der gesamte Vertragsprozess weiter verkompliziert wird.
Auch der Kundenservice und die Schadensmeldung stellen nach wie vor erhebliche Hürden dar. Gehörlose Menschen haben keinen Zugang zum telefonischen Support, und viele digitale Schadensmeldungen sind nicht barrierefrei gestaltet. Papierformulare oder komplizierte Prozesse mit häufigen Telefonaten erschweren es Kunden zudem, Schäden zu melden. Versicherer können hier mit digitalen, barrierefreien Schadensmeldungen Abhilfe schaffen, beispielsweise durch intuitive One-Click-Lösungen oder Spracherkennung für Berichte. Zusätzlich könnten Live-Chat-Optionen mit Text- und Gebärdensprachunterstützung sowie KI-gestützte Spracherkennung und Transkriptionen die Kommunikation erleichtern. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Transparenz bei Versicherungsentscheidungen, was insbesondere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen vor Herausforderungen stellt. KI-gestützte, personalisierte Beratung kann hier helfen, komplexe Prozesse verständlicher zu machen. Darüber hinaus haben blinde oder sehbehinderte Kunden Schwierigkeiten, gedruckte Versicherungsunterlagen zu lesen. Digitale Dokumente im barrierefreien PDF-Format, Vorlesefunktionen oder alternative haptische Lösungen wie Braille-Dokumente könnten hier eine barrierefreie Lösung bieten.
Nicht zuletzt geht es auch um flexible Versicherungsprodukte und Policen. Viele Standardversicherungen berücksichtigen die besonderen Lebensumstände von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht. Hier könnten individuell zugeschnittene Policen entwickelt werden – etwa für angepasste Gesundheits- oder Pflegeversicherungen oder spezielle Mobilitätsdeckungen für barrierefreie Fahrzeuge.
Auf welche Weise kann moderne Technologie wie Künstliche Intelligenz zur Realisierung von Barrierefreiheit beitragen?
Moderne Technologien, insbesondere Künstliche Intelligenz (KI), können einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) leisten, indem sie zahlreiche Barrieren für Menschen mit Beeinträchtigungen abbauen. Eine der zentralen Möglichkeiten, wie KI zur Barrierefreiheit beiträgt, ist die automatische Barrierefreiheitsprüfung und -korrektur. Mithilfe von KI-Algorithmen können fehlende Alternativtexte für Bilder auf Websites und in Apps erkannt und passende Beschreibungen automatisch vorgeschlagen werden. Darüber hinaus analysieren KI-gestützte Tools digitale Angebote auf ihre Barrierefreiheit und liefern Verbesserungsvorschläge, die zur Optimierung der Benutzererfahrung für Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen beitragen.
Ein weiterer wichtiger Einsatzbereich von KI ist die individuelle Anpassung der Benutzeroberflächen. KI-basierte Texterkennung, auch bekannt als OCR (Optical Character Recognition), ermöglicht es Menschen mit Sehbehinderungen, gedruckte Dokumente in digitale und barrierefreie Formate zu überführen. Diese Technologie hilft, Informationen zugänglich zu machen, die früher nur in physischer Form vorlagen. Zudem kann KI Webseiten und Apps dynamisch anpassen – beispielsweise durch die Vergrößerung von Texten, die Veränderung von Kontrasten oder die Integration von Vorlesefunktionen, die Nutzern mit Sehbeeinträchtigungen zugutekommen.
Die Verständlichkeit von Inhalten stellt ebenfalls eine große Herausforderung dar, vor allem bei komplexen Versicherungstexten. KI kann hier unterstützen, indem sie Übersetzungen in einfache Sprache vornimmt, die nicht nur für Menschen mit kognitiven Einschränkungen von Vorteil sind, sondern auch für Menschen, die mit der Sprache nicht vertraut sind, etwa Nicht-Muttersprachler. Darüber hinaus bieten Sprachsteuerung und Chatbots eine barrierefreie Möglichkeit zur Navigation von Websites und Apps. Menschen mit motorischen Einschränkungen können so durch gesprochene Befehle die digitale Welt leichter bedienen. Automatische Untertitel und Transkriptionen für Videos sowie Telefonate sorgen dafür, dass auch Menschen mit Hörbeeinträchtigungen problemlos auf Informationen zugreifen können.
Ein weiteres praktisches Beispiel ist der Einsatz von KI im Kundenservice. Sprach-zu-Text- und Text-zu-Sprache-Technologien ermöglichen es, Gespräche zwischen Kunden und Support-Mitarbeitern barrierefrei zu gestalten. So können auch Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen effizient kommunizieren. Künstliche Intelligenz kann zudem personalisierte Empfehlungen liefern, um Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Auswahl passender Versicherungsprodukte zu unterstützen. Ein besonders innovativer Ansatz ist der Einsatz von KI-gestützten Avataren, die Gebärdensprache beherrschen und so den Kundenservice für gehörlose Menschen deutlich verbessern.
KI ist eine Schlüsseltechnologie für die Schaffung barrierefreier digitaler Angebote. Sie trägt dazu bei, die Zugänglichkeit zu verbessern, die Benutzerfreundlichkeit zu erhöhen und den Service für alle Kunden, unabhängig von ihren Beeinträchtigungen, maßgeblich zu optimieren.