Warum Barrierefreiheit zur Wachstumschance für Versicherer wird
Digitale Barrierefreiheit ist mehr als nur ein technisches Detail. Sie entscheidet über Kundenzufriedenheit, Marktzugang und die Zukunftsfähigkeit der Versicherungsbranche. Wie Inklusion zur strategischen Chance wird, erklärt Thomas Müller von Accenture Song im Interview.

Versicherungsbote: Welchen Einfluss hat eine optimierte digitale Zugänglichkeit auf die Zufriedenheit und Loyalität der Versicherungskunden?
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Thomas Müller: Eine optimierte digitale Zugänglichkeit hat einen enorm positiven Einfluss auf die Zufriedenheit und Loyalität von Versicherungskunden, insbesondere wenn die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen gezielt berücksichtigt werden. Versicherungsunternehmen, die unzugängliche Websites, Kundenportale, mobile Apps sowie schwer verständliche Vertragsdokumente und Formulare proaktiv anpassen, schaffen eine benutzerfreundliche und inklusive Umgebung. Dies stärkt nicht nur das Vertrauen in die Marke, sondern fördert auch langfristige Kundenbeziehungen. Die positiven Auswirkungen dieser Maßnahmen können sich in verschiedenen Bereichen manifestieren:
Ein wesentlicher Aspekt ist die verbesserte Kundenerfahrung. Barrierefreie Websites und Apps ermöglichen eine leichtere Navigation, klare Strukturen und bessere Lesbarkeit – nicht nur für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch für die breite Kundschaft. Menschen mit Seh-, Hör- oder motorischen Einschränkungen profitieren besonders von assistiven Technologien wie Screenreadern oder Sprachsteuerung. Dies führt zu einer insgesamt höheren Nutzerfreundlichkeit, da die Bedienung der digitalen Angebote für alle Kundengruppen erleichtert wird.
Darüber hinaus stärkt eine barrierefreie digitale Präsenz die Kundenbindung und das Vertrauen. Versicherer, die sich aktiv für barrierefreie digitale Angebote einsetzen, signalisieren soziale Verantwortung und ein hohes Maß an Kundenorientierung. Diese Haltung wird von den Kunden geschätzt und sorgt dafür, dass sie sich gut betreut fühlen. Als Ergebnis sind diese Kunden eher geneigt, dem Unternehmen treu zu bleiben und es weiterzuempfehlen – ein klarer Vorteil in einem wettbewerbsintensiven Markt.
Die Erweiterung der Zielgruppe ist ein weiterer bedeutender Vorteil einer inklusiven digitalen Präsenz. Indem Versicherungsunternehmen ihre Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen und ältere Menschen zugänglich machen, erweitern sie ihre Reichweite und übernehmen gleichzeitig ihre soziale Verantwortung. Diese Inklusion bringt nicht nur ethische Vorteile, sondern kann auch neue Kundenkreise ansprechen, die bisher möglicherweise vom digitalen Versicherungsangebot ausgeschlossen waren.
Zuletzt verschafft sich ein Unternehmen, das frühzeitig in barrierefreie Lösungen investiert, einen klaren Wettbewerbsvorteil. Es erfüllt nicht nur gesetzliche Anforderungen, sondern setzt sich auch positiv von der Konkurrenz ab. Kunden erkennen, dass der Versicherer die Bedürfnisse aller seiner Kunden ernst nimmt, was ihn nicht nur aus einer rechtlichen, sondern auch aus einer kundenorientierten Perspektive als attraktiven Partner positioniert.
Wie verändert digitale Barrierefreiheit das Arbeitsumfeld in den Versicherungsunternehmen, besonders im Hinblick auf die Inklusion von Mitarbeitenden mit Beeinträchtigungen?
Digitale Barrierefreiheit spielt eine entscheidende Rolle dabei, ein inklusives und chancengerechtes Arbeitsumfeld zu schaffen, insbesondere für Mitarbeitende mit Beeinträchtigungen. Sie ermöglicht nicht nur die Anpassung der Arbeitsumgebung an die verschiedenen Bedürfnisse der Mitarbeitenden, sondern fördert auch eine Unternehmenskultur, die Gleichberechtigung und Teilhabe aktiv unterstützt.
Ein wesentlicher Bereich ist der Zugang zu Informationen und Tools. Digitale Barrierefreiheit sorgt dafür, dass alle Mitarbeitenden, unabhängig von temporären oder permanenten Beeinträchtigungen, uneingeschränkten Zugriff auf die digitalen Ressourcen und Arbeitsmittel im Unternehmen haben. Dies umfasst barrierefreie Intranet-Webseiten, Online-Trainings und Meetings sowie digitale Dokumente und interne Tools. Menschen mit Hör- oder Sehbehinderungen können durch die Bereitstellung von Inhalten in verschiedenen Formaten – etwa in Audio, Text oder Gebärdensprache – gleichwertige Weiterbildungsmöglichkeiten erhalten. Besonders videobasierte Meetings mit Untertiteln ermöglichen eine effektive und barrierefreie Zusammenarbeit. Darüber hinaus fördern Optionen zur Impulsreduktion bei der digitalen Informationsvermittlung ein noch inklusiveres Arbeitsumfeld.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Einsatz von assistiver Technologie. Es gibt eine Vielzahl von assistiven Technologien, die Mitarbeitende mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen unterstützen können, darunter Screenreader, Sprachsteuerung, Vergrößerungssoftware und spezielle ergonomische Tastaturen. Diese Technologien ermöglichen es den Mitarbeitenden, ihre Aufgaben effizient zu bearbeiten und aktiv am Arbeitsprozess teilzunehmen. Dies trägt nicht nur zur Produktivität bei, sondern steigert auch das Wohlbefinden der Mitarbeitenden, da sie sich in ihrer Arbeitsumgebung unterstützt und anerkannt fühlen.
Die Flexibilität und Remote-Arbeitsmöglichkeiten sind ebenfalls zentrale Elemente der digitalen Barrierefreiheit. Insbesondere für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder anderen gesundheitlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen bietet die Möglichkeit, remote zu arbeiten oder flexibel auf digitale Tools zuzugreifen, eine enorme Erleichterung. Mitarbeitende können ihre Aufgaben ohne die Einschränkungen eines physischen Arbeitsplatzes im Büro erledigen, was ihre Unabhängigkeit fördert und die Work-Life-Balance verbessert.
Zusätzlich ist die Schulung und Sensibilisierung der Mitarbeitenden und IT-Teams von großer Bedeutung. Um digitale Barrierefreiheit erfolgreich in alle Arbeitsprozesse zu integrieren, müssen alle Beteiligten geschult werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Mitarbeitenden produktiv arbeiten und sich in ihrer Arbeitsumgebung entfalten können.
Indem Versicherungsunternehmen auf digitale Barrierefreiheit setzen, erfüllen sie nicht nur die gesetzlichen Anforderungen des BFSG hinsichtlich digitaler Interaktion mit ihren Versicherungsnehmern, sondern schaffen auch eine Kultur der Inklusion und Chancengleichheit für ihre Mitarbeitenden. Dies führt nicht nur zu einer Verbesserung der Effizienz und des Wohlbefindens von Mitarbeitenden mit Beeinträchtigungen, sondern stärkt auch die gesamte Unternehmenskultur. Unternehmen, die digitale Barrierefreiheit aktiv umsetzen, profitieren nicht nur intern, sondern steigern auch ihre Außenwahrnehmung und Attraktivität als Arbeitgeber für diverse Talente. Ein solches Umfeld fördert eine langfristige Bindung von Mitarbeitenden und macht das Unternehmen für potenzielle neue Talente besonders attraktiv.
Welche Chancen verpassen Versicherungsunternehmen, wenn sie ihre Dienstleistungen nicht oder nur unzureichend barrierefrei gestalten?
In Deutschland leben laut dem Statistischen Bundesamt rund 7,8 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, die fast alle über 15 Jahre alt sind. Das bedeutet, dass mehr als 9 % der deutschen Bevölkerung von einer Form der Beeinträchtigung betroffen sind. Diese Gruppe, zu der auch Menschen mit Sehbehinderungen, Schwerhörigkeit, Querschnittslähmungen und geistigen Beeinträchtigungen gehören, stellt einen erheblichen, oft unterschätzten Markt dar. Wenn Versicherungsunternehmen ihre Dienstleistungen nicht barrierefrei gestalten, verpassen sie nicht nur ihre moralische Verantwortung, sondern auch wertvolle wirtschaftliche Chancen.
Ein wichtiger Punkt ist die unterschätzte Kaufkraft und das Marktpotenzial. Menschen mit Beeinträchtigungen verfügen über eine beachtliche Kaufkraft. Allein in der EU leben etwa 87 Millionen Menschen mit einer Behinderung, weltweit sind es mehr als 1,3 Milliarden. Ihre geschätzte jährliche Kaufkraft beträgt bis zu 8 Billionen US-Dollar, bekannt als der „Disability Market“. In Deutschland betrifft das etwa 10 Millionen Menschen, zusätzlich profitieren ältere Menschen, die ebenfalls von barrierefreien Angeboten Gebrauch machen können, und über eine Kaufkraft von rund 9,6 Milliarden Euro verfügen. Versicherungsunternehmen, die diesen Markt adressieren, können von dieser großen Zielgruppe profitieren und ihre Reichweite erheblich erweitern.
Fehlende Barrierefreiheit führt zu Umsatzverlusten durch unzugängliche Dienstleistungen. Viele Unternehmen übersehen, dass nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen selbst, sondern auch deren Freunde, Familienangehörige und Pflegekräfte barrierefreie Lösungen bevorzugen. Zudem sind Menschen mit Beeinträchtigungen oft loyalere Kunden, wenn sie sich gut betreut und verstanden fühlen. Versicherungsunternehmen, die keine barrierefreien Websites, Apps oder Beratung anbieten, verpassen somit nicht nur potenzielle Kunden, sondern auch wichtige Cross-Sell- und Upsell-Möglichkeiten. Komplizierte Versicherungsprozesse und der Mangel an barrierefreien Lösungen führen dazu, dass viele Kunden abspringen oder zur Konkurrenz wechseln. Versicherer, die speziell auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe eingehen, können zusätzliche Produkte anbieten, etwa barrierefreie Hausratversicherungen oder spezialisierte Pflegeversicherungen.
Rechtliche und finanzielle Risiken sind ebenfalls ein bedeutender Aspekt. Zum Stichtag müssen digitale Dienstleistungen barrierefrei sein, andernfalls drohen Strafen und potenzielle Image-Schäden. Unternehmen, die das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) nicht einhalten, riskieren nicht nur rechtliche Klagen und Diskriminierungsvorwürfe, sondern auch finanzielle Belastungen. Wer frühzeitig in barrierefreie Lösungen investiert, spart langfristig Compliance-Kosten und schützt sich vor rechtlichen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus könnten Kunden rechtliche Schritte einleiten, wenn sie keinen Zugang zu wichtigen Versicherungsangeboten erhalten oder diskriminiert werden.
Zu guter Letzt können Versicherungsunternehmen auch Reputations- und Wettbewerbsschäden erleiden. Ein fehlendes Engagement für Barrierefreiheit wird zunehmend als Zeichen für mangelnde soziale Verantwortung wahrgenommen, was zu einer negativen Wahrnehmung und Kundenabwanderung führen kann. Unternehmen, die sich jedoch für Inklusion und Barrierefreiheit einsetzen, stärken nicht nur ihr Image, sondern auch ihre Arbeitgebermarke. Sie heben sich von Wettbewerbern ab, die diesen wichtigen Aspekt nicht berücksichtigen, und können so eine stärkere Kundenbindung aufbauen.