Kondratieffzyklen

Bei der Betrachtung langfristiger (Struktur-)Zyklen stößt man auf die Theorie des Ökonomen Nikolai Kondratieff, der langfristige Wirtschaftsschwankungen in Zyklen von 40 bis 60 Jahren, so genannte Kondratieffzyklen, beobachtete.
Nach seiner Theorie stehen am Anfang eines jeden Zyklus neue technologische Errungenschaften – die Erfindung der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Elektrizität, die Entwicklung des Automobils und der Informationsgesellschaft –, die zu Trägern eines lang anhaltenden Konjunkturaufschwungs werden. Diese Basisinnovationen durchdringen nahezu alle Bereiche der Volkswirtschaft: Alte Industriezweige werden durch neue verdrängt, Unternehmenskulturen und -prozesse wandeln sich, neue Berufsfelder entstehen und die in der gesamten Wirtschaft ausgelösten Produktivitätsschübe führen zu Phasen langfristigen Wohlstandswachstums und sind zumeist verbunden mit steigenden Aktienmärkten.
Seit der Industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts unterscheidet man fünf Kondratieffzyklen, wobei der jüngste um 1970 mit der Verbreitung der Informationstechnologie einsetzte, die das tägliche Leben und Arbeiten teilweise radikal verändert hat.

Krisen als Beschleuniger des wirtschaftlichen Strukturwandels

Bei jedem dieser Strukturzyklen haben übertriebene Spekulation und Vermögenspreisblasen an den Finanzmärkten das Ende des Zyklus herbeigeführt.
Gleichzeitig fungierten sie auch als Beschleuniger eines neuen Aufschwungs. Die vier von Kondratieff identifizierten Kennzeichen einer Trendwende treffen auch auf die aktuelle wirtschaftliche Situation zu:

  • Der Produktivitätsschub der für den 5. Zyklus maßgeblichen Informationstechnologie scheint langsam auszuklingen; so steigt die Arbeitsproduktivität durch ein noch schnelleres Notebook nicht mehr deutlich.
  • Die Weltwirtschaft war bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007 von einem Überschuss an Finanzkapital gegenüber Sachkapital geprägt.
  • Die Wirtschafts- und Finanzkrise war die schwerste (Welt-)Wirtschaftskrise seit 1930. Es gibt soziale und institutionelle Veränderungen im Hinblick auf den ordnungspolitischen Rahmen für die globale Finanzarchitektur, der das Fundament für ein nachhaltiges Wirtschafts- und Finanzsystem bilden soll.

Triebkräfte Globalisierung und demografischer Wandel

Globalisierung und demografischer Wandel könnten die Impulsgeber für einen 6. Kondratieffzyklus sein. Durch diese beiden Megatrends sind globale Nachfrageverschiebungen zu erwarten. Ihre Wirkung besteht bereits seit längerer Zeit, ihre volle Tragweite dürften sie aber erst in den nächsten Jahrzehnten entfalten. Dennis Nacken, Senior Kapitalmarktanalyst von Allianz Global Investors: „Mit dem Wegfall technologischer Schranken durch das Internet hat die Globalisierung eine neue Qualitätsstufe erreicht. Nicht nur Waren können per Knopfdruck auf jedem Fleck der Erde angeboten werden, vielmehr erlaubt das Internet nun auch den Export von Dienstleistungen.“
So ist der Welthandel seit 1987 um das 4-Fache gestiegen, während sich die globale Wirtschaftsleistung lediglich verdoppelt hat. Demografisch betrachtet ist eine zunehmende Zweiteilung der Welt erkennbar. Zwar wird die Weltbevölkerung bis 2050 um rund 40 Prozent auf über 9 Mrd. Menschen anwachsen, dabei wird jedoch in den Industriestaaten die Bevölkerung schrumpfen und immer älter.
Und in der anderen Hälfte, dies sind vorwiegend die Schwellenländer, wird die Bevölkerung weiter wachsen und vergleichsweise jung bleiben.

Weltwirtschaftliche Gewichtsverlagerung und Wissensökonomie

Die beiden Megatrends werden die Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunkts nach Asien sowie der Weg der Industriestaaten hin zu einer Wissensökonomie zur Folge haben.
Nach Schätzungen der Asian Development Bank wird der Anteil Asiens an der Weltwirtschaftsleistung 2050 etwa 50 Prozent ausmachen und China wird vermutlich die USA und Europa überholt haben. Der Weltbank zufolge werden die Länder mit niedrigem Einkommen in den nächsten Jahrzehnten doppelt so schnell wachsen wie die Länder mit hohem Einkommen. Trotz dieser Verschiebung und des geringen Wachstums verfügen die Industriestaaten jedoch in vielen Bereichen immer noch über einen bedeutenden Pioniervorsprung, der sich in der Innovationsstärke und in den Ausgaben für Forschung und Entwicklung widerspiegelt.
Es ist daher wahrscheinlich, dass auch der 6. Kondratieffzyklus von den Industrieländern ausgehen wird, wo der Weg hin zu einer Wissensökonomie vorgezeichnet scheint. Mit dem weiteren Ausbau des Wissensanteils an der Wertschöpfung können sie dem schärferen weltwirtschaftlichen Wettbewerb begegnen.

Schlüsselindustrien im 6. Kondratieff

Ein Schlüssel für eine zukunftsträchtige Wirtschaft im nächsten langen Zyklus scheint in der Steigerung der Ressourcen- und Energieproduktivität zu liegen. „Künftiges Wachstum dürfte aus einer neuen Mischung von Ökonomie, Ökologie und gesellschaftlichem Engagement generiert werden. Man kann diesen Strukturwandel der Wirtschaft auch als ‚Eco-Trends’ bezeichnen“, sagt Nacken.
Vom grünen Wandel der Märkte dürfte unter anderem die Hightech-Industrie profitieren, weil die Nachfrage nach erneuerbaren Energien, modernen Umwelttechnologien, einer nachhaltiger Wasserwirtschaft, Recycling und effizienteren Antriebstechniken steigt. Die Verzahnung des 5. Kondratieff- mit dem 6. Kondratieffzyklus, d. h. die Verbindung des Bereichs der Informationstechnologie mit dem der „grünen Märkte“, dürfte weiter zunehmen.
So werden beispielsweise dem Bereich „Smart Grid“, dem „Internet der Energie“, große Wachstumsperspektiven zugesprochen. Hinsichtlich der Ressourcen- und Energieproduktivität erscheinen auch die Perspektiven der Nano- und Biotechnologie interessant. Beide Technologien könnten durch innovative Materialien und Materialeigenschaften sowie neue Prozesse weitere Hauptrollen im neuen Strukturzyklus spielen.
Darüber hinaus dürften sie als Querschnittstechnologien zu anderen Bereichen wie zum Beispiel der Umwelt-, der Elektro- und der Medizintechnik weiter an Bedeutung gewinnen.
Im Vergleich zu anderen Branchen vereinen die Bereiche Biotechnologie und Pharma bereits heute die meisten Investitionen in Forschung und Entwicklung auf sich. Der Bereich der kleinsten Strukturen kann derzeit zwar noch nicht die Funktion einer Lokomotive für die Weltwirtschaft ausüben.
Angesichts der hohen Forschungs- und Entwicklungsausgaben in diesem Bereich, der großen Wachstumsmöglichkeiten und der breiten gesellschaftlichen Durchdringung als Querschnittstechnologie haben beide Technologiefelder aber das Potenzial, sich zum Megatrend und damit zum Träger des 6. Kondratieffs zu entwickeln.

Schließlich dürfte auch der Gesundheitssektor ein weiterer bedeutender Wachstumsmotor im 6. Kondratieffzyklus sein. Mit dem Paradigmenwechsel, weg von der Betrachtung von Gesundheit als „Eigenschaft“ und Kostenfaktor hin zur Betrachtung als Ressource und Wachstumstreiber für Wirtschaft und Beschäftigung, wird die Branche weiter an ökonomischer Bedeutung gewinnen.
Nacken: „Rund um den Begriff ‚ganzheitliche Gesundheit’ – im Sinne einer körperlichen, seelischen, ökologischen und sozialen Gesundheit – entstehen neue expandierende Märkte und Produktwelten.“ Treibende Faktoren sind dabei der globale demografische Wandel, der sich in einer steigenden Lebenserwartung einer zunehmenden Weltbevölkerung niederschlägt, der medizintechnische Fortschritt, ein Wertewandel in den alternden Wohlstandsgesellschaften hin zu mehr eigenverantwortlicher Gesundheitsvorsorge und aktiver Körperfitness sowie schließlich die zunehmende Ökonomisierung im Gesundheitssektor.

Das Fundament des 6. Kondratieffzyklus ist gelegt

Sowohl die Megatrends auf der Nachfrageseite wie Globalisierung und Demografie oder die Megatrends auf der Angebotsseite wie Umwelttechnologie, die Bereiche kleinster Strukturen oder ganzheitliche Gesundheit, alle haben nicht nur das Potenzial, langfristig Produktivitätsschübe für die Weltwirtschaft auszulösen, sondern verfügen gleichzeitig auch über das Leistungsvermögen einer gesellschaftlichen Einflussnahme.
Auch wenn die Zeit des Umbruchs nach der Finanzkrise noch eine Weile andauern dürfte und die Haupt- und Nebenrollen im 6. Kondratieffzyklus noch nicht klar vergeben sind, scheint das Fundament bereits gelegt. Die zeitlich nah aufeinander folgenden Krisen der „TMT-Bubble“ und der jüngsten Finanzkrise könnten den Beginn des 6. Zyklus markieren.
Nacken: „Für langfristig orientierte Anleger kann es sich lohnen, die jüngste Krise als Chance zu nutzen, um frühzeitig auf der sechsten Welle des Kondratieffs mitzureiten.“