Gesundheitsforscher des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, der Hochschule Fulda und des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) der Universität zu Köln haben untersucht, wie sich die sogenannte "Kopfpauschale" in Deutschland auswirken könnte.
Die Ergebnisse wurden heute veröffentlicht.

"In überschaubaren Schritten", so will die Bundesregierung eine Pauschalprämie in der Krankenversicherung einführen.
Wie groß der erste Schritt ausfällt, dafür gibt es bislang nur Anhaltspunkte: Im März war von 29 Euro pro Monat die Rede.
Neue Berechnungen des IGKE zeigen: Schon diese "kleine" Kopfpauschale würde Menschen mit geringerem und mittlerem Einkommen deutlich stärker belasten - auch wenn im Gegenzug der Arbeitnehmer-Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent des Lohnes entfiele. Für Versicherte, die 1.000 Euro brutto im Monat verdienen, steige der Gesamtbeitrag zur Krankenversicherung beispielsweise um monatlich 20 Euro.
Das entspricht rechnerisch einer Erhöhung des Beitragssatzes von heute 14,9 auf 16,9 Prozent, kalkuliert IGKE-Direktor PD Dr. Markus Lüngen.
Erst ab einem Monatsbrutto um die 3.500 Euro brächte die Kopfpauschale eine finanzielle Entlastung, die mit steigendem Einkommen bis zur Bemessungsgrenze wächst.

Und auf Dauer würde es wohl nicht beim ersten Schritt bleiben. "Auch die kleine Pauschale wird schnell groß", erläutern Prof. Dr. Stefan Greß und Dr. Simone Leiber ein Ergebnis der Forschung zu Kopfpauschalen in den Niederlanden und der Schweiz.
Der Gesundheitsökonom an der Hochschule Fulda und die Gesundheitsexpertin des WSI skizzieren einen "schleichenden Systemwechsel": Wenn die Bundesregierung ihre Absicht umsetzen würde, die Beiträge der Arbeitgeber zur Krankenversicherung einzufrieren, müsste der Anteil der Arbeitnehmer steigen, um die Kosten des medizinischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung zu tragen.
Es liegt nahe, dass dazu die Pauschale erhöht würde. Und zwar in deutlich spürbaren Schritten, rechnen Greß und Leiber vor: Mit jeder Milliarde Euro, um die sich die Gesundheitsausgaben erhöhen, stiege die Pauschale bei rund 50 Millionen gesetzlich Versicherten um 20 Euro pro Kopf und Jahr. Zur Einordnung: Zwischen 2007 und 2010 sind die Ausgaben der gesetzlichen Kassen um rund 20 Milliarden Euro gewachsen.

Befürworter der Pauschalprämie versprechen, Mehrbelastungen durch Zahlungen an die Versicherten auszugleichen. Das Geld dafür soll aus Steuermitteln kommen. Doch bislang gibt es in Deutschland keine Institution, die solch einen Ausgleich organisieren könnte.
Weder Finanzbehörden noch Krankenkassen oder Kommunen wären dazu in der Lage, konstatieren Greß und Leiber. Auf Basis der niederländischen Erfahrungen schätzen sie allein die laufenden Kosten für die administrative Abwicklung des Sozialausgleichs auf mindestens 250 Millionen Euro pro Jahr.
Diese Kalkulation sei "konservativ", weil die niederländischen Finanzbehörden, anders als die deutschen, schon vor Einführung der Pauschale Erfahrung mit der Erhebung von Krankenkassenbeiträgen hatten, betonen die Wissenschaftler.
Und Einmalausgaben für den Aufbau der Verwaltung sind in der Schätzung noch nicht einmal enthalten. Weitere gravierende Probleme prognostizieren die Fachleute beim Datenschutz und mit säumigen Prämienzahlern. Denn in den Nachbarländern ist zu beobachten, dass mit der Höhe der Pauschale auch die Zahl der Nichtzahler wächst.

Darüber hinaus spreche auch ein grundsätzlicher Aspekt gegen die Kopfpauschale mit Solidarausgleich:
Sie bricht mit dem bewährten Versicherungsprinzip in der Gesundheitsversorgung:
Zahlreiche Patienten, die sich heute als Versicherungsnehmer betrachten können, würden zu Empfängern einer steuerfinanzierten Fürsorgeleistung und müssten sich auf "Bedürftigkeit" prüfen lassen. "Dies geht in der Regel einher mit Problemen wie Angst vor Stigmatisierung und Scham vor der Inanspruchnahme", beobachten Simone Leiber und Stefan Greß.
Betroffen wären große Teile der Bevölkerung, wie der Blick in die Niederlande zeigt. Dort empfingen 2008 etwa 70 Prozent aller Haushalte einen "Gesundheitszuschuss".

Zudem wäre das Gesundheitssystem bei Einführung einer Kopfpauschale mehr denn je von einem fachfremden Akteur abhängig: dem Finanzminister. Wie reagiert der auf steigende Ausgaben?
Erfahrungen insbesondere aus den Niederlanden deuteten auf wachsende Konflikte hin: Dort "werden derzeit eine drastische Ausweitung der Selbstbeteiligungen von 150 Euro auf 750 Euro pro Jahr und eine Reduzierung des Leistungskatalogs diskutiert".

Fazit der Forscher: Der Einstieg in ein Pauschalprämiensystem brächte massive Probleme.
Dagegen seien die angeblichen positiven Wirkungen, mit denen Befürworter eines Systemwechsels argumentieren, meist zweifelhaft. In Ländern, die bereits eine Kopfpauschale haben, beobachten Greß und Leiber keine substanziell größere Nachhaltigkeit der Gesundheitsfinanzierung.
Auch das in der deutschen Debatte vorgebrachte Argument, eine Abkopplung der Gesundheits- von den Arbeitskosten könne für mehr Beschäftigung sorgen, spiele "in den Niederlanden und der Schweiz keinerlei Rolle".

Und für mehr Effizienz und Qualität bringe die Kopfpauschale keine nennenswerten Impulse, so die Gesundheitsforscher von WSI und Hochschule Fulda. Viel wichtiger sei es, den Krankenkassen mehr Möglichkeiten einzuräumen, ihre Verträge selektiv mit guten Leistungserbringern, wie etwa Ärzten, abzuschließen - und die überkommene Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufzuheben.

Hans-Böckler-Stiftung