Angespannte Lage bei deutschen Lebensversicherern
Bereits vor Bekanntgabe der offiziellen Bafin-Zahlen legen "Bain & Company" und "Towers Watson" erste Ergebnisse ihrer umfangreichen Studie „Solvency II – eine kulturelle und strategische Herausforderung“ vor. Während Kranken- und Schaden-/ Unfallversicherer hierzulande bei Anwendung der geplanten neuen EU-Regeln zumeist ausreichend kapitalisiert sind, erscheint die Lage bei einem Viertel der betrachteten Lebensversicherer angespannt: Die Solvenzquoten liegen hier unter der kritischen Grenze von 100 Prozent. Viele Unternehmen verdienen zudem ihre Kapitalkosten nicht. Die ersten Studienergebnisse offenbaren erheblichen Handlungsbedarf in der Versicherungsbranche – und zwar vor Einführung des neuen Regelwerkes.
Die europäische Versicherungsbranche steht vor einem Paradigmenwechsel. Unabhängig von der endgültigen Ausgestaltung einzelner Regeln und noch zu diskutierender Übergangsfristen bei der Einführung, rückt mit Solvency II das Kapital als knappe Ressource in den Mittelpunkt der strategischen Überlegungen von Versicherungsunternehmen. Auf Basis der aktuellen QIS5-Spezifikation und öffentlich zugänglicher Unternehmenskennzahlen haben die Beratungsunternehmen "Bain & Company" und "Towers Watson" in den vergangenen drei Monaten Solvenz und Profitabilität des Kapitaleinsatzes der jeweils 20 größten Lebens-, Schaden-/Unfall- und Krankenversicherer in den vier größten europäischen Märkten (Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien) mit Hilfe eines standardisierten Modells analysiert.
Das für diesen Zweck entwickelte Modell berücksichtigt Unterschiede in der Eigenkapitalausstattung, dem Geschäftsmix sowie der Kapitalanlagestruktur und enthält Schätzungen für nicht-öffentlich zugängliche Daten wie Duration der Kapitalanlagen und Umfang von Rückversicherungsprogrammen. Auch wenn die Resultate der Analyse natürlich nicht deckungsgleich mit den internen QIS5-Berechnungen der einzelnen Häuser sein können, liefert das Modell Ergebnisse für den deutschen Markt auf einer vergleichbaren methodischen Basis.
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Bereits die ersten Auswertungen für die deutsche Versicherungsbranche zeigen: Besonders kritisch ist die Lage bei den Lebensversicherern. Fast jedes vierte der simulierten Unternehmen hat eine Solvenzquote von weniger als 100 Prozent. Die Hauptursache liegt in einem – im europäischen Vergleich hohen – Missverhältnis zwischen den Laufzeiten der Versicherungsverträge und den Laufzeiten des angelegten Vermögens, dem sogenannten Duration-Mismatch. Darüber hinaus kommt eine deutsche Besonderheit zum Tragen: Einige Versicherer bilanzieren noch immer auf Basis des HGB, dessen Vorschriften kürzere Laufzeiten von Vermögenswerten begünstigen.
Entspannter ist die Situation bei den Krankenversicherern:
Keine der betrachteten Gesellschaften operiert mit einer Solvenzquote von weniger als 100 Prozent. Dieses gute Ergebnis beruht im Wesentlichen darauf, dass die Möglichkeit der laufenden Beitragsanpassung Krankenversicherer unter Solvency II besser stellt. Traditionell stark kapitalisiert sind die Schaden-/Unfallversicherer. Hier steigt zwar das benötigte Kapital für die untersuchten Gesellschaften in Deutschland im Vergleich zu Solvency I um mehr als 200 Prozent, trotzdem weisen weniger als fünf Prozent eine Solvenzquote von unter 100 Prozent aus.
Unter Solvency II wird Kapital zu einer knappen Ressource und die Kapitalrendite zur zweiten entscheidenden Kennzahl. Um europaweit die Profitabilität vergleichen zu können, nutzt die Studie die durchschnittliche risikoadjustierte Rendite (RARoRAC) als Maßstab für die Rendite auf das eingesetzte Kapital.
Die Analyse zeigt: Nur eine Minderheit der Lebensversicherer verdient die Kapitalkosten. Dabei hängt die spezifische Situation stark von dem Produktmix des jeweiligen Hauses ab. Bei traditionellen Produkten mit einer fest zugesagten Mindestverzinsung auf das Kapital ergab die Simulation eine Rendite von durchschnittlich minus vier Prozent. Besser gestaltet sich die Situation für fondsgebundene Produkte oder reine Risikopolicen, mit denen sich zweistellige Renditen erwirtschaften lassen.
In der privaten Krankenversicherung lag die durchschnittliche risikoadjustierte Rendite bei einem Prozent, wobei die Werte je nach versicherungstechnischem Ergebnis und Ausschüttungsquote stark variieren. Die Rendite der Schaden- /Unfallversicherer liegt ebenfalls bei durchschnittlich einem Prozent, wobei insbesondere die Kfz-Versicherer nur schwer ihre Kapitalkosten verdienen.
Erheblicher Handlungsbedarf bei deutschen Versicherern
Je nach ihrer spezifischen Ausgangssituation lassen sich zwei Gruppen von Unternehmen unterscheiden. Auf der einen Seite stehen die kapital- und ertragsstarken Häuser, die in den umkämpften Produktlinien in der Sachversicherung noch Gestaltungs- und Preisspielräume haben und ihre Präsenz in Vertriebskanälen wie dem Maklerkanal verstärken können. Auf der anderen Seite steht die größere Gruppe der kapital- oder renditeschwachen Häuser, die ihre Kapitalbindung reduzieren und ihre Profitabilität erhöhen müssen.
Dr. Gunther Schwarz, Partner bei "Bain & Company" und Leiter der Versicherungs-Praxisgruppe für Europa kommentiert:
„Bereits die ersten Ergebnisse unserer Analyse zeigen den erheblichen Handlungsbedarf. Die unterkapitalisierten Unternehmen müssen in den kommenden Monaten ihre Kapital- und Risikostruktur optimieren und dabei ihr Geschäftsmodell sowie ihre Organisation anpassen. Aber auch den kapital- und ertragsstarken Anbietern eröffnen sich neue Möglichkeiten. Denn sie können 2011 und 2012 gezielt in die Entwicklung noch attraktiverer Produkte investieren, ihren Preisspielraum gerade in umkämpften Märkten wie der Schadenversicherung ausnutzen und ihre Präsenz im Vertrieb organisch oder durch Akquisitionen stärken.“
Nachdrücklich warnt Frank Schepers, Director bei "Towers Watson" davor, mit Blick auf eventuelle Übergangsfristen die nötigen Vorbereitungen noch weiter hinauszuzögern: „Bei aller berechtigten Kritik wird es zu einer grundlegenden Neuordnung der Regulierung der Versicherungswirtschaft kommen. Je früher sich die Unternehmen mit der geforderten Transparenz über die Risiken des Geschäfts und deren Kapitaldeckung beschäftigen desto besser. "Bain"-Partner Gunther Schwarz ergänzt: „Die Unternehmen, die jetzt die richtigen Weichen stellen, können unabhängig von ihrer Größe in den nächsten Jahren einen echten Wettbewerbsvorsprung erzielen.“
Insgesamt nennt und bewertet die Studie acht wesentliche Hebel, mit denen die Unternehmen ihre Kapitalbindung deutlich reduzieren und ihre Profitabilität erhöhen können, darunter auch traditionelle Hebel wie die Optimierung der Kapitalanlagestruktur und die Rückversicherung.
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Veröffentlichung europaweiter Vergleichszahlen
In den kommenden Wochen werden "Bain & Company" und "Towers Watson" die Ergebnisse der Simulation im europäischen Vergleich veröffentlichen. Die Gesamtstudie „Solvency II – eine kulturelle und strategische Herausforderung“ mit detaillierten Ergebnissen und Handlungsempfehlungen liegt bis Mitte April 2011 vor.